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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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denken, sich nach ihnen erkundigen und ihnen Mut zusprechen.
    Dafür, dass der Wunsch nach Kontakten von beiden Seiten anhaltend groß ist, gibt es Gründe: Die Beziehung unterliegt keinem Zwang, sie ist keine lästige Notwendigkeit, sondern eine schöne Möglichkeit. Die starke Bindung , die diese Liebe ermöglicht, geht mit großer Freiheit einher, denn anders als den Eltern mit den Kindern steht es den Großeltern frei, mit den Enkeln umgehen zu wollen oder nicht; ebenso verhält es sich für den Umgang der Enkel mit den Großeltern. Anders als die Eltern, deren ontologische Interessen denen der Kinder im Weg stehen können, konkurrieren die Großeltern mit den Enkeln nicht um Lebensmöglichkeiten: Ihre Möglichkeiten haben sie zum größeren Teil bereits gelebt und die verbleibenden sind nicht die, die für die heranwachsende Generation von Interesse wären. Die Eltern hingegen werden naturgemäß sehr stark von eigenen Interessen umgetrieben, da sie ihre Lebensmöglichkeiten meist noch nicht hinreichend realisieren konnten. In dem Maße, in dem sie selbst noch »jung sein wollen«, können sie den Heranwachsenden, die bereits die Realisierung ihrer eigenen Möglichkeiten beanspruchen, ins Gehege geraten.
    Anders als die Beziehung zwischen Eltern und Kindern wird die zwischen Großeltern und Enkeln auch nicht von der alltäglichen Wirklichkeit dominiert, sondern als höchst erwünschte Unterbrechung des Alltags erfahren. Mit dem unvermeidlichen Ärger im Alltag sind die Großeltern nicht befasst, und wenn doch einmal, können sie großzügig darüber hinwegsehen. Die Enkel bemerken das und empfinden es als äußerst wohltuend. Zuhause sind sie in das Regelgerüst der Eltern eingespannt, bei den Großeltern aber gilt eine andere Ordnung. Hier sind die Verrücktheiten erlaubt, die die Kinder lieben und zu denen die Eltern im Stress der Alltagsbewältigung weder Zeit noch Lust haben. Zwar sind die Eltern nicht immer damit einverstanden, dass ihre Kinder ungewöhnliche Dinge bei den Großeltern tun dürfen, aber sie könnten sich daran erinnern, wie sehr sie dies selbst einst genossen. Der entstehende Freiraum ist in einem Maße frei vom Müssen, wie dies ansonsten nur in Freundschaften erfahrbar ist.
    Die Großeltern repräsentieren eine Idylle des Wohlwollens , denn sie lassen die Enkel gutmütig gewähren und verzichten auf jede unsanfte Machtausübung, die ihrer Erfahrung nach ohnehin nichts bringt. Dass ihre Gelassenheit groß sein kann, kommt vom Lassen: Sie müssen nicht ständig eingreifen, korrigieren und kontrollieren, und dies nicht etwa nur aus der Einsicht heraus, dass es sich nicht lohnt, sondern auch, weil die erforderlichen Kräfte zur ewigen Intervention nicht mehr zur Verfügung stehen. In diesem Klima, wie es etwa Bettine Brentano in ihrer Kindheit in besonderem Maße erfuhr, da sie nach dem Tod der Mutter bei ihrer Großmutter, der Schriftstellerin Sophie von La Roche aufwuchs, kann sich ein sehr eigenständiges Denken entfalten. Das heranwachsende Ich kann sich mit seinen Talenten in einer Weise entwickeln,die im Elternhaus, in dem eine bestimmte Konstellation von Notwendigkeiten die Räume besetzt hält, nicht immer möglich ist. Womöglich mehr als die Eltern können sich Großeltern auf die Interessen und Bedürfnisse des Kindes einlassen, ihm ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit widmen und es damit »in seiner Entwicklung entscheidend fördern« (Peter Schwob, Großeltern und Enkelkinder , 1988, 8).
    Aus der Sicht von Kindern stehen Eltern grundsätzlich unter Erziehungsverdacht , die egoistischen Interessen ihrer Erziehungsversuche sind nicht zu überhören (»ich will auch mal meine Ruhe haben«), und selbst ihre ethischen Interessen (»ich will nur dein Bestes«) machen nichts besser, denn Kinder sehen ihr Bestes tendenziell darin, ihren eigenen Interessen folgen zu können, die Eltern stören dabei nur. Frei von der Letztverantwortung für die Erziehung können die Großeltern den Kindern zusehen, ohne ständig alles beurteilen zu müssen, was sie machen. Ihr Blick auf den Nachwuchs ist von jenem »interesselosen Wohlgefallen« geprägt, das Immanuel Kant in anderem Kontext als charakteristisch für die Wahrnehmung von Schönem bezeichnete ( Kritik der Urteilskraft , 1790).
    Während Eltern dazu neigen, ihren Kindern Irrwege ersparen zu wollen, wissen Großeltern, dass die Zeit des Heranwachsens eine Zeit des Ausprobierens ist, und sie strahlen die Zuversicht aus, dass auch Um- und Abwege

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