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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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auch ein Oscar Wilde mit seinem älteren Bruder Willie um die Gunst der Mutter. Die angeblich unwichtigen Äußerlichkeiten, um die es dabei meist geht, repräsentieren die innerlichen Energien, die aus subjektiver Sicht immer zu knapp bemessen sind und daher zusätzlich von Anderen bezogen werden müssen.
    Um sich die Bezugsquelle zu sichern, kann die Liebe der Geschwister, wie jede andere, von Machtfragen durchzogen sein, vom Kampf um Aufmerksamkeit mit allen Mitteln, die in einer solchen Beziehung zur Verfügung stehen. Nur wenige machen dabei von sanften Machtmitteln Gebrauch, um etwa mit Freundlichkeit, Liebenswürdigkeit und Kooperation zu einem Arrangement mit dem Konkurrenten zu gelangen. Größerer Beliebtheit erfreuen sich die unsanften Machtmittel der Beschimpfung und Erpressung, des zeitweiligen oder nachhaltigen Liebesentzugs, womöglich mit der Androhung physischer Gewalt und ihrem wirklichen Einsatz, jedenfalls in der Kindheit, wenn die Eltern für einen Moment nicht hinsehen. Die Rivalität der Geschwister scheint von klein auf maßvoller auszufallen, wenn ihr Altersabstand größer ist als die ein, zwei Jahre, die viele Eltern bei der Familienplanung bevorzugen, um mit der Kindererziehung in überschaubarer Zeit »fertig zu sein«.
    Regelmäßig entzünden sich Konflikte am großen Familienthema Recht und Gerechtigkeit , insbesondere an Fragen wie: Wer hat das Recht, wem was zu sagen? Wer hat für wen was getan und wie ist das angemessen zu würdigen? Wer hat wem was angetan und wie ist das wiedergutzumachen? Wer hat wovon zu wenig oder zu viel bekommen? Wer hat wem was zurückzugeben? Wer wird ständig ungerecht behandelt? Wer wird zu viel, zu wenig oder gar nicht geliebt? Die Unruhe darüber durchzieht nicht etwa nur die Kindheit, sondern hält bei manchen das ganze Leben hindurch an (Horst Petri, Geschwister – Liebe und Rivalität , 1994). Immer wieder kommen längst vergangene, nie vergessene Sentenzen und Szenen im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen den Geschwistern zum Vorschein, die beweisen sollen, wer schon immer benachteiligt wurde, wer »der Liebling war« und wer damals schon »Anderen nichts gönnte«.
    Diese Probleme gar nicht erst entstehen zu lassen, ist kaum möglich. Die energetischen und materiellen Ressourcen vollkommen gerecht zu verteilen, ist bereits bei den leiblichen Kindern schwierig, schwieriger noch bei Kindern unterschiedlicher Herkunft in Patchworkfamilien, und mit jedem Kind, das hinzukommt, wächst die Komplexität. Den Eltern bleibt nur, die möglichen Probleme bei ihrer Art der Zuwendung und Zuneigung im Blick zu behalten und sich immer wieder von Neuem zu fragen: Wenden wir angemessene Aufmerksamkeit auf jedes Kind? Wie können wir jedem auf seine Weise gerecht werden? Können wir unbedachte Vergleiche zwischen den Kindern vermeiden, die, ausgesprochen oder nicht, mit Lob und Tadel verbunden sind und von den Betroffenen als äußerst ungerecht empfunden werden?
    Schwierig ist die Verteilungsgerechtigkeit , da sie nach Grundsätzen fairer Gleichbehandlung nicht nur der Gleichheit , sondern auch der Ungleichheit der Beteiligten Rechnung tragen soll. Wie ist beispielweise den unterschiedlichen, hormonell grundierten, von mehr oder weniger Testosteron beeinflussten Bedürfnissen von Jungen und Mädchen gerecht zu werden? Wie den Talenten und den Altersstufen? Kleine Kinder können Zuwendung und Aufmerksamkeit sehr wirksam auf sich ziehen, ältere Kinder reagieren darauf, indem sie in einen ähnlichen Zustand »regredieren«, um sich eine adäquate Portion zu sichern. Nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen, kann ein Trauma der »Entthronung« (Alfred Adler, Der Sinn des Lebens , 1933, 151) zur Folge haben, aus dem Mordphantasien hervorgehen.
    Eine ständige Unruhe sollte ebenso der Verfahrensgerechtigkeit gelten: Werden alle so an Entscheidungen beteiligt, dass bei keinem das Gefühl entsteht, es werde ständig über seinen Kopf hinweg entschieden? Dennoch kann das Resultat aller Mühen keine makellose Gerechtigkeit sein, vielmehr kommt es im späteren Erwachsenenleben auf die Fragen des Einzelnen an sich selbst an: Bemühe ich mich mit meiner Arbeit an mir und Sorge für Andere darum, frühere Verletzungenzu heilen und Ungerechtigkeiten zu überwinden? Übe ich genügend Nachsicht gegenüber Eltern und Geschwistern, die unterschiedliche Seiten an sich haben wie ich selbst? Um mir nicht eines Tages wehmütig sagen zu müssen (Veits Lied in Albert

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