Dem Leben Sinn geben
machen die Eltern ihm sein Dasein zum Vorwurf; sie sträuben sich dagegen, dass mit dem Kind Möglichkeiten wirklich werden, die sie nicht wirklich wollten, und dieses ontologische Ressentiment macht Liebe unmöglich.
In ärmlichen Verhältnissen kann das Kind als zusätzlicher »Esser« die familiären Lebensgrundlagen spürbar einschränken, sodass der Wunsch aufkommt, Andere, die Gesellschaft und der Staat mögen sich darum kümmern, was auch immer das konkret heißen soll. Aber selbst dort, wo nichts knapp ist, wird nicht selten auf die lästigen Seiten des Umgangs mit Kindern verzichtet: Andere, Kindermädchen und Internate sollen sich damit befassen, ein Outsourcing der besonderen Art, das Erfolg hat, wenn die Kinder dabei tatsächlich neue Zuwendung finden. Ansonsten werden sie ihren Eltern irgendwann verbittert vorwerfen, sie abgeschoben und einer Wirklichkeit ausgesetzt zu haben, die nicht wirklich lebenswert ist.
Viele Heranwachsende, die fundamentale Bindungen entbehren, versuchen die Leerstelle sehr früh durch intime Beziehungen aufzufüllen; ihre Suche nach Nähe und Verständnis vermengt sich dabei oft mit sexuellen Motiven: Fehlende Liebe und die vermisste familiäre Einbindung haben vermutlich mit dem Phänomen zunehmender Teenager-Schwangerschaften zu tun. In den neuen Beziehungen aber führen Probleme rasch zu Angst und Stress, denn die äußerst fragile Selbstbeziehung ist vom Mangel an Wertschätzung durch Andere bedroht. Aggressionen fungieren als Selbstschutz und stellen eine verzweifelte Reaktion dar, wenn die Beziehungen, denendas eigene Leben anvertraut wird, bedroht sind oder verloren gehen.
Neben der fehlenden wirkt sich eine gewaltsame Liebe zum Kind traumatisch aus, auch wenn es befremdlich erscheint, hier überhaupt von Liebe zu sprechen. Die Gewalt kann Ausdruck einer fehlenden Liebe, einer Gleichgültigkeit sein, die es ermöglicht, das wehrlose Kind zum bloßen Objekt zu machen und Aggressionen an ihm abzureagieren wie an einem Sandsack. Vielleicht ist es auch nur das Gefühl der Überforderung, das zur Gewalttätigkeit führt: Nicht zu wissen, was zu tun ist, nicht zu können, was erforderlich wäre – aber es läge zuallererst an den Überforderten, nach Hilfe zu suchen und sie auch anzunehmen. Die Gewalt kann darüber hinaus Ausdruck einer fehlgeleiteten Liebe sein, sei es einer sadistischen Liebe, die in Gewalt ihre Erfüllung findet, oder einer einstigen Liebe, die aus irgendwelchen Gründen in Hass umschlägt.
Alle diese Motive spielten wohl eine Rolle, als die gewaltsame Beziehung zum Kind in alten Zeiten und in verschiedensten Kulturen nicht etwa nur akzeptiert, sondern geradezu gefordert wurde. Selbst in der modernen Kultur konnten viele Kinder auch noch im 20. Jahrhundert zuhause und in der Schule Züchtigungen am eigenen Leib erfahren; die meisten hielten sie für schicksalhaft gegeben, bisweilen sogar für gerechtfertigt. Erst im Gefolge der Studentenbewegung von 1968 geriet das Züchtigungsrecht in westlichen Ländern kulturell ins Abseits. Untersuchungen konnten nachweisen, dass Misshandlungen antisoziale Symptome hervorbringen, und aufgrund veränderter politischer Wahlergebnisse gingen die Gesetzgeber dazu über, Kindern und Jugendlichen die Achtung von Menschenrechten, Würde und körperlicher Unversehrtheit zu garantieren.
Vielfach mit Schweigen übergangen wurde jedoch bis ins 21. Jahrhundert hinein eine weitere Art von fehlender und fehlgeleiteter Liebe, die aller Erfahrung nach traumatische Folgen hat: Die missbräuchliche Liebe zum Kind , mit oder ohne Anwendung von Gewalt. Beim sexuellen Missbrauch wird aus dem Kind ein gefügiges oder gefügig gemachtes Objekt, mit dem der Täter, der in vielen Fällen aus dem familiären und sozialen Umfeld kommt, leichtes Spiel hat. Er folgt seinem Geltungsbedürfnis, will eigene Macht erfahren, Frustration abreagieren, sich Lust besorgen, seiner Selbstliebe frönen und sich Wünsche nach »wahrer Liebe« erfüllen, die für ein Kind aber auch dann zur schweren Belastung wird, wenn es daran zunächst nichts auszusetzen hat: Davon erzählt Margaux Fragoso in ihrem autobiographischen Roman Tiger, Tiger (2011). Mit den Problemen der unangemessenen oder gar verbrecherischen Liebe zum Kind, der Pädophilie in diesem Sinne, setzte sich Platon bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. auseinander: Diese Probleme hatte er im Blick, als er in seinem Werk über die Liebe, Symposion , die Abwendung von der körperlichen und seelischen
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