Dem Leben Sinn geben
auch dem zukommen soll, der sich selbst als inhuman erweist.
Die Idee, mit Menschenliebe und Menschenfreundlichkeitdas destruktive Potenzial des Menschenhasses einzudämmen, im Idealfall zu überwinden, kennen die meisten Kulturen in irgendeiner Form. Die meisten haben diese Idee zeitweilig auch wieder mit Füßen getreten. In der abendländischen Kultur wurde viele Jahrhunderte lang, kulminierend im 18. Jahrhundert, das Ideal der Humanität propagiert. Johann Gottfried Herder rühmte in seinen Briefen zu Beförderung der Humanität ( sic! ) von 1793-97 das »barmherzige Wort« der Menschlichkeit. Aber just zu dieser Zeit führten Menschen in der realen Geschichte vor, dass nicht mit einem Automatismus für den ontologischen Übergang von der schönen Idee zur praktischen Realisierung zu rechnen ist. Die euphorische Beschwörung der Liebe aller Menschen zu allen tendiert nicht von selbst schon zur Verwirklichung, denn in der Praxis fällt es schwer, Andere zu lieben oder auch nur zu mögen, wenn sie wirklich oder vermeintlich eine andere Auffassung vom Leben, eine andere Kultur und Religion, eine andere Mentalität, eine andere politische Meinung haben. Es kann sogar so weit kommen, Menschenopfer mit dem Ziel zu legitimieren, der Menschenliebe zum Sieg zu verhelfen: Der Versuch zur Umsetzung humanistischer Ideen im Gefolge der französischen Revolution nach 1789 kostete viele Menschen den Kopf. Dem Terreur unter Robespierre folgten im Laufe der Moderne noch viele weitere Terroraktionen, und kaum eine Revolution schreckte im Namen der Menschlichkeit vor Unmenschlichkeit zurück.
Sich darüber zu entrüsten, liegt nahe, aber auch im gewöhnlichen, alltäglichen Leben will die Menschenliebe nicht immer gelingen: Nicht alle Menschen können alle lieben, ja, noch nicht einmal mögen. Um die Menschlichkeit nicht vom Gutdünken des Einzelnen in besonderen Situationen abhängig zu machen, sondern ihre Segnungen möglichst jedem Menschenin jeder Situation zukommen zu lassen, wurden die Menschenrechte erfunden. Ausgehend von ihren ersten Erklärungen in der englischen Bill of Rights 1689, der amerikanischen Declaration of Independence 1776 und der französischen Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen 1789, fanden sie an vorderster Stelle Eingang in die Verfassungen moderner demokratischer Staaten. In den jeweiligen Landesgrenzen wurden einklagbare Bürgerrechte daraus, die ein Recht auf Leben und Würde, Freiheit und körperliche Unversehrtheit, Gewissens- und Religionsfreiheit, freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und einiges mehr garantieren.
Unter dem Eindruck der systematischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Zeit des Nationalsozialismus kam 1948 die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen zustande. Mit den Nürnberger Prozessen 1945-49 setzte eine Entwicklung ein, die über den 1959 gegründeten Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bis zur Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs 2002 in Den Haag führte. Ein weiterer Schritt hin zu Weltbürgerrechten ist das »Weltrechtsprinzip«, wonach schwerwiegende Verbrechen gegen die Menschlichkeit überall auf der Welt verfolgt und bestraft werden können, da diese Taten sich nicht nur gegen direkt Betroffene, sondern gegen die gesamte Menschheit richten.
Die Idee der Menschenrechte wurzelt, was die abendländische Kultur angeht, zum Teil in der antiken Philosophie: Schon im 1. Jahrhundert n. Chr. spricht Seneca von einem »allgemeinen Menschenrecht« ( ius generis humani ; Briefe an Lucilius über Ethik , 48, 3), und er sieht ein rühmenswertes Beispiel für die Zuwendung von Mensch zu Mensch in der Freundschaft. Eine ältere Wurzel stellt die Idee der Nächstenliebe im Judentum dar, zurückgehend auf das Alte Testament (3. Mose 19, 18), ausdem das entstehende Christentum den Kernsatz seiner Ethik im Neuen Testament gewann: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« ( Matthäus-Evangelium , 19, 19 und 22, 39; Lukas-Evangelium , 10, 27). Damit ist der radikale und universelle Anspruch verbunden, jeden Anderen als Nächsten zu achten und zu schützen, ihm beizustehen und zu helfen, bei Konflikten aber unter allen Umständen und in jeder Beziehung einen neuen Anfang zu machen, um den ewigen Kreislauf von Beleidigungen, Verletzungen und Racheakten zu durchbrechen und ein menschenwürdiges Leben zu beginnen. Dem hohen Anspruch wurde die Geschichte des Christentums selbst allzu oft nicht gerecht: Immer wieder wurde
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