Dem Leben Sinn geben
sie als erweiterte Freundesliebe verstanden werden, als Liebe im weiteren Sinne. Nietzsche traute der Nächstenliebe dennoch nicht über den Weg: »Rathe ich euch die Nächstenliebe? Lieber noch Nächstenfurcht und Fernstenliebe« ( sic! , Nachgelassene Fragmente von 1882/83, KSA 10, 177). Es dürfte allerdings schwierig sein, ein Leben zu führen, dasüberall Anlass zur Nächstenfurcht sieht. Auch wenn ein Gran an Misstrauen bei Begegnungen mit Nächsten grundsätzlich angebracht erscheint, würde eine Überdosis davon jedes Leben vergiften. Was im 21. Jahrhundert demgegenüber von Interesse ist, ist die Fernstenliebe , da der Fernste immer näher rückt. Auf sehr unterschiedliche Weise kann der Nächste fern sein: Sozial fern (in anderen Milieus und Schichten), mental fern (in anderen Kulturen und Denkweisen), räumlich fern (irgendwo auf dem Planeten), zeitlich fern (irgendwann in der Zukunft, in kommenden Generationen). Die Fernstenliebe fällt im Zweifelsfall leichter als die Nächstenliebe, denn der Fernste steht nicht vor mir, er bedrängt mich nicht. Sich um ihn zu kümmern, trägt aber oft das größere soziale Renommee ein, denn es erscheint weniger selbstverständlich, auch wenn es in vielen Fällen weniger aufwändig ist: »Der unterstützt sogar die, um die sich sonst niemand kümmert.«
Wie andere Lieben wird freilich auch die Menschenliebe, Nächstenliebe und Fernstenliebe von Neid und Eifersucht durchquert, die der eigenen Erfahrung keineswegs fremd sind: Warum wird Anderen geholfen, warum nicht mir? Auch diese Liebe kennt Probleme von Untreue und Verrat , denn mit einer Spende für die soziale Einrichtung in der Nähe oder die Erdbebenopfer in der Ferne ist nach subjektivem Empfinden oft schon der Liebe Genüge getan, die zugehörigen Menschen sind bald vergessen, während die Aufmerksamkeit bereits wieder Anderen gilt.
Mehr als je zuvor wird in der Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts die universalisierte Zuwendung und Zuneigung zur vagabundierenden Liebe , weniger als je zuvor steht dabei ein konkreter Mensch vor Augen. Eine ungleich größere Treue ist möglich, wenn die Zuwendung und Zuneigung mit einer persönlichen Beziehung einhergeht, wenn also beispielsweise ein Bildungspate das Kind, das er mit Geldzuwendungen fördert, persönlich kennenlernt. Aber selbst im löblichen Fall einer Förderung zieht die gute Absicht nicht von selbst schon gute Konsequenzen nach sich: In der sozialen Umgebung kann das Kind aufgrund seiner Privilegierung ausgegrenzt werden. Das ist kein Argument dafür, nichts zu tun, nur eines dafür, auch beim Gutsein vorsichtig und umsichtig vorzugehen.
Im Alltag findet die Menschenliebe, die Liebe zum Nächsten und Fernsten, ihren schönsten Ausdruck in der Gastfreundschaft . Bei einer persönlichen Freundschaft und Bekanntschaft hat sie den Charakter einer Selbstverständlichkeit: Es versteht sich von selbst, gastfreundlich zu dem zu sein, den man kennt und mag. Aber die weitergehende Idee der Gastfreundschaft ist, sie nicht nur Freunden und Bekannten, sondern auch Fremden zu gewähren. Sie kann geradezu eine Liebe zum Fremden sein (daher auch philoxenia im Griechischen), ganz nach dem Motto, das in verschiedenen Kulturen geläufig ist: »Fremde sind Freunde, die man noch nicht kennt.«
Bei der Gastfreundschaft kommen erneut die verschiedenen Freundschaftsarten zum Vorschein: Durch Elemente einer Lustfreundschaft ist sie charakterisiert, wenn Menschen sich aus hedonistischen Gründen gastfreundlich zeigen. Für Gäste da zu sein und ihnen wohlzutun, umgekehrt Wohltaten von ihnen zu empfangen, kann als sehr lustvoll erlebt werden. Die Lust ist wechselseitig: Gäste erfahren ein Stück Heimat in der Fremde, und für die Annehmlichkeiten, die sie genießen, bringen sie ein Stück Welt mit sich, einen Blick von außen, neue Informationen und Anregungen, »frische Luft«. Jeder Gast vermittelt einen Eindruck vom unendlichen Reichtum der Welt, denn er repräsentiert einen anderen Blick, eine andere Sprache, eine andere Weise des Denkens und Fühlens, eine andere Wahrnehmung des Lebens, das ansonsten immer dasselbe zu sein scheint.
Durch Elemente einer Nutzenfreundschaft ist die Gastfreundschaft gekennzeichnet, wenn utilitaristische Gründe in den Vordergrund treten, auf beiden Seiten: Für den Gast kann der Nutzen darin bestehen, sich Unterbringungs- und Verpflegungskosten zu ersparen, für den Gastgeber darin, dies bei nächster Gelegenheit selbst in Anspruch nehmen zu
Weitere Kostenlose Bücher