Dem Leben Sinn geben
dürfen. Die Gastfreundschaft kann mit derlei pragmatischen Überlegungen einhergehen, sie muss keine selbstlose romantische Zuwendung und Zuneigung sein. Da aber wie bei der gewöhnlichen Nutzenfreundschaft kaum einer wagt, den Grund der Beziehung klar auszusprechen, kommt die Gastfreundschaft oft nur unter Vortäuschung einer wahren Freundschaft zustande. Hält die Beziehung dann nicht, was sie verspricht, ist die Enttäuschung groß. Nur im professionellen Gastgewerbe führt der wechselseitige Nutzen zu einer ausgewiesenen Geschäftsfreundschaft: Wenn der Gast sich wohlfühlt, ist der Nutzen für den Gastgeber materiell messbar, eine Verletzung der Gastfreundschaft fällt im Gegenzug spürbar auf ihn zurück.
Eine wahre Gastfreundschaft wird unabhängig von Lust und Nutzen einfach von Mensch zu Mensch gewährt. Sie hat ihren Zweck in sich selbst und beginnt bereits damit, dass ich auf der Straße auf einen Anderen zugehe, der hier offenkundig nicht zu Hause ist, um ihn zu fragen, wie ich ihm behilflich sein kann, angetan vielleicht von der Art und Weise, wie ich das meinerseits andernorts erfahren habe und davon beeindruckt war. Jedes Entgegenkommen öffnet dem Anderen unversehens die Tür zu dem Ort, der beim ersten Hinsehen verschlossen wirkt, und schenkt ihm eine unvergessliche Erfahrung, die für immer mit diesem Ort verbunden bleibt. Das gilt erst recht, wenn dem Gast Gelegenheit gegeben wird, am Leben vor Ort teilzuhaben. Jeder, der schon einmal eine offenherzige Gastfreundschaft frei von jedem Kalkül erlebt hat, weiß, wie beglückend das ist. Der Gast muss nicht den Eindruck haben, fremd zu sein und womöglich ausgenutzt zu werden, sondern kann sich uneingeschränkt willkommen fühlen. Ist damit dem »unbedingten Gesetz der Gastfreundschaft« (Jacques Derrida) Genüge getan? Aber es gibt verborgene Bedingungen.
Um ihnen Rechnung zu tragen, ist die Bedeutung der Gastfreundschaft in vielen Kulturen tief in der Tradition, Konvention und Religion verankert, nicht abhängig von der persönlichen Wahl des Einzelnen. Der Gast ist »von Gott gesandt«, heißt es in Georgien, und entsprechend aufmerksam und großzügig wird er überall behandelt. Nüchtern betrachtet dient dies nicht nur dem Wohlergehen und dem Schutz des Gastes , sondern auch dem Schutz des Gastgebers vor dem unkalkulierbar Fremden im Anderen. Eine potenzielle Gefahr soll mit der wohltuenden Gastfreundschaft gebannt werden: Sie ist eine Möglichkeit, den Gast mit ästhetischen Mitteln zur Ethik zu führen , ja, zu verführen. In all dem, was sinnlich, seelisch, geistig, metaphysisch schön und bejahenswert an der Gastkultur erscheint, soll er ihre Werte schätzen lernen und sich selbst an sie binden, zumindest sie nicht verletzen, stören oder gar zerstören. Mit allen Mitteln der Sinngebung soll er die Gastkultur als attraktiv erfahren, und der tiefste Sinn der Gastfreundschaft ist vielleicht sogar der transzendente Sinn : »Dass ein Mensch dem andern Rast gebe auf der großen Wanderschaft zum ewigen Zuhaus« ( sic! , Romano Guardini, Briefe über Selbstbildung , 1921-22, Ausgabe 1968, 39). Konterkariert wird diesvom Missbrauch der Gastfreundschaft , der beiderseits möglich ist, etwa wenn der Gastgeber mit einer Überfülle von Wohltaten den Gast zu sehr vereinnahmt oder der Gast das Gastrecht zu sehr beansprucht: Dass er beispielsweise kein Bleiberecht in Anspruch nehmen sollte, meinte schon Kant. Auf rechte Weise Gastgeber zu sein, ist eine Kunst; Gast zu sein ebenfalls.
Neue Bedeutung erlangt die Gastfreundschaft auf allen Ebenen in Verbindung mit virtuellen Beziehungen . Menschen aus aller Welt können im Internet problemlos potenzielle Gastgeber kontaktieren (hospitalityclub.org, stay4free.com, airbnb.com), um irgendwo auf dem Planeten Orte, Menschen und Kulturen nicht aus der Außensicht distanzierter Hotelzimmer, sondern aus der Binnensicht des gelebten Alltags kennenzulernen, etwa beim Couchsurfing . Jeder kann jederzeit mit jedem in Kontakt treten, der elektronische Austausch ermöglicht virtuelle Reisen in alle Welt, um schließlich den Übergang von der Virtualität zur Realität zu vollziehen und wirklich bei anderen Menschen zu Gast zu sein, im Gegenzug andere Menschen und mit ihnen »die ganze Welt« bei sich zu Gast zu haben, Element einer Sharing Economy , einer neuen Kultur des Teilens, die sich im 21. Jahrhundert entwickelt.
Auf überraschende Weise wird so mit elektronischer Unterstützung das Weltbürgerrecht mit Leben
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