Dem Leben Sinn geben
dieses Liebesgebot in einem Maße missachtet, das Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit aufkommen ließ. Wurde die Missachtung davon begünstigt, dass die Liebe zum Nächsten aus theologischer Sicht gar keine eigenständige, sondern nur eine abgeleitete Liebe sein kann?
Die Liebe zum Nächsten ist eigentlich eine Liebe zu Gott. »Gottes wegen« ( propter Deum ; Summa theologiae , II, 23, 5), wie es beim großen Theologen Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert heißt, wird der Nächste geliebt, nicht etwa seinetwegen. Nur Gott wird um seiner selbst willen geliebt, er allein ist der Inbegriff der Liebe, sodass diesem Gottesverständnis zufolge der wahre Gottesdienst darin besteht, in der Liebe zu leben. Mag es um Glaube, Liebe, Hoffnung gehen, »am größten jedoch unter ihnen ist die Liebe« und der, der nicht liebt, ist »nichts« (Paulus, 1. Korintherbrief , 13, 13).
Die Nächstenliebe ist im Grunde nicht persönlich gemeint, sondern kommt unterschiedslos jedem zu: Zu lieben ist jeder Mensch ohne Ansehen der Person, da alle Menschen Geschöpfe Gottes sind. Das sollte niemanden enttäuschen, sondern jeden entlasten, denn so lässt sich vieles am Nächstenertragen: Ich tue es ja nicht für ihn, sondern für Gott. Aus dem christlichen Hohelied der Liebe resultiert zudem eine praktische Ethik, die schon bei der bloßen Begegnung zweier Menschen im Alltag ein grundsätzliches Wohlwollen füreinander spürbar macht, auch wenn sie sich nicht kennen, eine Zuwendung und Zuneigung in milder Form, die wohltuend ist.
Von der Person abzusehen, hat jedoch weitere Folgen, die weniger angenehm für Andere und für das eigene Selbst sind: Wenn grundsätzlich alle Menschen geliebt werden, kann der Einzelne leicht übersehen werden. Die abstrakte Nächstenliebe bedarf daher einer konkreten Einzelliebe , die nicht allen in gleicher Weise zuteilwerden kann. Und anders als bei der gewöhnlichen Liebe zu einem Anderen kann die Nächstenliebe nicht auf Gegenliebe ausgerichtet sein. Damit aber läuft der, der sie übt, Gefahr, zu viele Energien zu investieren und selbst auszubrennen, wenn ihm nicht reichhaltige Quellen für die Regeneration zur Verfügung stehen.
Um die Ressourcen, für Andere da zu sein, wiedergewinnen zu können, ist die Nächstenliebe zwingend auf die Selbstliebe angewiesen. Die religiösen Texte erkennen dies durch die ausdrückliche Forderung an, den Nächsten zu lieben »wie dich selbst«, und nicht etwa »anstelle deiner selbst«. Gängige Interpretationen verwischen dies durch die Annahme, die Selbstliebe sei bei den meisten Menschen immer schon vorzufinden, sodass von ihr auszugehen sei; letztlich müsse sie überwunden werden. Aber damit wird die theologische Bedeutung der Selbstliebe verkannt: Wie die Nächstenliebe ist die Selbstliebe eigentlich eine Liebe zu Gott, mit ihr ehrt sich das Selbst als Geschöpf Gottes und hat im Gegenzug an den göttlichen Energien teil, die es dann auch Anderen weitergeben kann.
In der Geschichte der christlichen Theologie wurde diegrundlegende Selbstliebe dennoch frühzeitig eliminiert. Als der Kirchenvater Basilius der Große im 4. Jahrhundert dem wild entstandenen Mönchtum Regeln vorschrieb, hob er die Liebe zu Gott und zum Nächsten hervor, verwarf aber ausdrücklich die zu sich selbst ( Asketikon mit »längeren Regeln«, 42. Frage), eine folgenreiche Beschneidung des Wortlauts der für heilig gehaltenen Texte, im Grunde ein Sakrileg, das lange nicht revidiert wurde.
Als fast ein Jahrtausend später historisch hinreichend deutlich geworden war, dass eine Schwächung der Selbstliebe keineswegs eine Stärkung der Nächstenliebe, sondern ihre Aushebelung zur Folge hat, erinnerte Thomas von Aquin an den vollen Sinn des Gebots und entwarf die christliche Agenda der Liebe von Neuem – aber ohne jeden Erfolg. Selbst Martin Luther, der 1517 mit seinen legendären 95 Thesen die Reformation begründete, dachte nicht daran, die Nächstenliebe wieder an die Selbstliebe zu binden, sondern ersetzte ganz im Gegenteil die Selbstliebe durch Selbsthass ( odium sui , 4. These): Er sei »die wahre Herzensbuße« und bleibe bestehen »bis zum Eingang ins Himmelreich«. Auch von dieser Seite wurde der Nächstenliebe also mangels Selbstliebe für weitere Jahrhunderte der Boden entzogen. Erst im 21. Jahrhundert scheint sich die Theologie hier und da auf die ursprüngliche Bedeutung des Nächstenliebegebots zu besinnen.
Weltlich gesehen entspricht die Nächstenliebe der Menschenliebe und kann wie
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