Dem Leben Sinn geben
jeglicher Gewaltanwendung gegen sie, auch wenn noch so viele Gründe dafür sprechen würden. Die Feindesliebe fordert, einem unversöhnlichen Hass keinenRaum zu geben, einen Ausschluss des Feindes aus dem Kreis der Menschen nicht zuzulassen, sich nicht dazu hinreißen zu lassen, ein »Tier« in ihm zu sehen, was noch immer dazu diente, sämtliche Hemmungen im Umgang mit ihm abzulegen und sich kein Gewissen über die eigene Unmenschlichkeit gegen ihn zu machen. Seine Feinde zu lieben heißt, ohne jede Vorbedingung die Hand zur Versöhnung auszustrecken, im Vertrauen darauf, dass die Liebe stärker ist als aller Hass.
Das ist der radikale christliche Grundgedanke, den Erasmus von Rotterdam im 16. Jahrhundert zum Ausgangspunkt einer humanistischen Neubesinnung machte und der im 20. Jahrhundert von einem Nichtchristen wie Mahatma Gandhi auf hinduistischer Grundlage, von einem Christen wie Nelson Mandela vielleicht auch vor dem Hintergrund einer eigenen afrikanischen Tradition eindrucksvoll realisiert wurde. Manche haben die Idee bekräftigt, indem sie ihr Leben dafür gaben ( Von Menschen und Göttern , Regie Xavier Beauvois, Frankreich 2010). Der Idee kann es nichts anhaben, dass Christen selbst sie in ihrer Geschichte vielfach Lügen straften, etwa beim frühen Kampf gegen ihresgleichen, gegen die »Arianer«, später gegen die »Häretiker«, ebenso beim Umgang mit Nichtchristen, als das Christentum nach langer Verfolgung 313 selbst zur Staatsreligion wurde und Andere zu verfolgen begann, sodann bei den Kreuzzügen, die dem Liebesgebot ins Gesicht schlugen, schließlich bei gnadenlosen Religionskriegen zwischen Katholiken und Protestanten.
Dreh- und Angelpunkt ist jedoch erneut das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst. Denn wie könnte die anspruchsvolle Ethik der Feindesliebe möglich sein, wenn sie nicht von einer Ethik der Selbstliebe getragen und durch den Umgang mit dem Anderen im eigenen Inneren eingeübt würde, um vonda aus nach außen gewendet zu werden? Die Liebe zu Feinden setzt eine Liebe zu dem Anderen in mir selbst voraus, das mir fremd vorkommt und nicht selten feindselig erscheint. Die Zuwendung zum äußeren Feind oder zu dem als feindselig wahrgenommenen Anderen lässt sich am ehesten dann realisieren, wenn das Gebot der Feindesliebe analog zu dem der Nächstenliebe verstanden wird: Liebe den äußeren Feind wie deinen inneren.
Selbst einem Christen steht die Feindesliebe nicht umstandslos zu Gebote, vielmehr ist sie das Resultat eines langwierigen Prozesses in der Auseinandersetzung mit sich selbst. Die Versuchung ist groß, sich von inneren Auseinandersetzungen zu befreien, indem die Rolle des Feindes im eigenen Inneren äußeren Anderen zugewiesen wird, die dann heldenhaft bekämpft werden, ohne dass sie etwas von den wahren Gründen dafür ahnen könnten. Wer der eigenen Anstrengung entgehen will, hasst den äußeren Feind wie den inneren – jedem Hass auf Feinde geht ein Selbsthass voraus. Derjenige jedoch, der die Liebe zu Feinden ernsthaft realisieren will, macht mit der inneren Feindesliebe den Anfang, ganz der Selbstliebe entsprechend, die die Liebe zum Nächsten erst ermöglicht.
An mir also liegt es, mich im eigenen Inneren um die Selbstfreundschaft zu bemühen, die mich zu einem anderen Verhältnis zu Nächsten, Fernsten, Feinden oder vermeintlichen Feinden befähigt. Eine Voraussetzung dafür ist die Selbstklärung , um Klarheit darüber zu gewinnen, welche dunklen Seiten in mir selbst existieren, die unter ungünstigen Umständen auch den Schöngeist zum Gewalttäter machen können, wie die endlos lange und nicht enden wollende Kriminalgeschichte zeigt. Die Selbstklärung macht verständlich und verzeihlich, dass dunkle Seiten ebenso in Anderen zu finden sind, ohne dass damit einVerzicht auf die Verantwortung des jeweiligen Menschen für sich selbst begründet werden soll, denn wer sonst sollte diese Verantwortung übernehmen? Mich mit den Gegensätzen im eigenen Inneren, insbesondere mit den eigenen Aggressionen zu befreunden und sie damit zu mäßigen, macht es mir leichter, einem äußeren Aggressor oder einem Menschen, den ich für aggressiv halte, Zuwendung und Zuneigung in irgendeiner Form entgegenzubringen und allein schon damit mäßigend auf ihn einzuwirken, so jedenfalls die Hoffnung. Vorwürfe an ihn können dann weniger heftig ausfallen und müssen nicht um jeden Preis auf die Höhe der Moral gehoben werden, auf der ich mich anscheinend alleine bewege, während
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