Dem Leben Sinn geben
der Anfeindung mehr sehen. Es kommt darauf an, ihnen die Funktion, die ihnen zugedacht wird, schmackhaft zu machen. Das aber ist mit erheblichen Anstrengungen auf Seiten des Selbst verbunden, das erst einen Anlass für ablehnende Stellungnahmen schaffen muss, damit eine Anerkennung durch Ablehnung zustande kommen kann, zumindest ein bemühtes Nichtwissenwollen, eine intensive Ignoranz . Sollte es dem Selbst möglich sein, dies mit Schweigen zu quittieren, Ignoranz gegen Ignoranz, kann die Verwunderung darüber Deutungen hervorlocken, die gute Aussichten darauf eröffnen, auf der nächsthöheren Stufe nicht nur die Anerkennung, sondern auch die Aneignung des umstrittenen Anliegens durch Andere zu erreichen: Aneignung durch Ablehnung .
Weit wirksamer als die Aneignung durch Zustimmung, die gewöhnlich gesucht wird, ist diese andere Art der Aneignung, die auf der intensiven Bekämpfung der abgelehnten Position beruht. Nur in diesem Fall kommen zwangsläufig alle Aspekte, Argumente und Gegenargumente zur Sprache, die bei einer glatten Zustimmung verborgen bleiben, mit gravierenden Folgen: Früher oder später erweist sich die ungeprüfte Position als unhaltbar, große Enttäuschungen und noch größere Probleme sind unvermeidlich; aufgrund fehlender hermeneutischer Unruhe erscheint die vertretene Position über kurz oder lang uninteressant. Kann es irgendwelche Zweifel daran geben, wie wichtig es ist, gute Feinde zu haben, und wie wertvoll dieser Besitz ist? Was wäre angesichts dessen ein Leben ohne Feinde?
Um Feinde anzuziehen, die ihre Rolle gut auszufüllen versprechen, sie als Feinde aber auch gut zu behandeln, bedarf es einer Kultivierung der Feindschaft . Die Idee dazu ist nicht neu, lesenswert ist noch immer, was Adolph Freiherr Knigge in seinem Buch Vom Umgang mit Menschen (Zweiter Teil, Kapitel 11) zu diesem speziellen Umgang zu sagen hat: Feindschaft sei kein Unglück, man brauche sich nicht zu beunruhigen, »wenn nicht alle Menschen uns für gut und weise halten«.
Je sichtbarer ein Mensch mit bestimmten Eigenschaften hervortrete, desto sicherer könne er damit rechnen, den Neid Anderer auf sich zu ziehen. Niemand solle seine Feinde verachten, die die »größten Wohltäter« seien, wenngleich ohne es zu wollen: Sie machen den Angefeindeten auf Fehler aufmerksam, die ihm aufgrund seiner eigenen Eitelkeit und der wohlmeinenden Nachsicht seiner Freunde verborgen bleiben. Sie spornen ihn zu Verbesserungen an und lehren ihn, auf der Hut zu sein. Kultivierte Umgangsformen tun daher auch beim Umgang mit Feinden not: Es gibt keinen Grund dafür, sich ausfällig gegen sie zu verhalten, hitzig oder grob zu werden; es genügt, sie zu ignorieren. Die beste Waffe gegen sie ist ohnehin nicht irgendwelche Rache, sondern ihre großmütige Behandlung, die sie letztlich mehr zu fürchten haben, denn wenn sie daraufhin den offenkundig gut gesinnten Menschen weiter anfeinden, setzen sie sich in den Augen des Publikumsselbst herab. Kämpfen solle man, meint Knigge, nur gegen »mächtige, siegende Feinde«, nicht gegen unglückliche und schon besiegte, über die zu triumphieren keine Heldentat sei.
Die Geschichte der Idee, mit Feinden pfleglich umzugehen, reicht aber noch weiter zurück: »Dem Klugen nützen seine Feinde mehr als dem Dummen seine Freunde«, notierte im 17. Jahrhundert Baltasar Gracián im Handorakel . Dessen Übersetzer ins Deutsche, der schon zu Lebzeiten im 19. Jahrhundert vielfach angefeindete Arthur Schopenhauer, der seinerseits keinem Feind etwas schuldig blieb, hielt die Überschrift des Aphorismus 84 sicherlich mit besonderer Genugtuung fest: Von den Feinden Nutzen ziehn .
Was Gracián beobachtet hatte, durfte Schopenhauer geschmeichelt auf sich selbst beziehen: Dass die Größe eines Menschen auch eine Aufbauleistung seiner Feinde ist. Denn ein kluger Mensch, meinte Gracián, mache sich aus dem Groll seiner Feinde einen Spiegel, in dem er die eigenen Stärken und Schwächen gut erkennen könne. Das versetze ihn in die Lage, Fehler und Mängel zu bearbeiten, ganze »Berge von Schwierigkeiten« zu überwinden und durch das Übelwollen und die Missgunst seiner Feinde schließlich groß zu werden. Für weit gefährlicher als die Anfeindung, die auf die Auslöschung eines Menschen zielt und ihn damit zur Selbstbehauptung zwingt, hielt Gracián die Schmeichelei, die die dunklen Flecken des Umschmeichelten überdeckt und ihn zu einer Selbstzufriedenheit verleitet, die ihm keine Weiterentwicklung mehr
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