Dem Leben Sinn geben
Andere zu unglaublichen, unmoralischen Regungen fähig sind, menschlicher Achtung kaum würdig.
Und doch kann das noch nicht alles sein. Ein entscheidender Stolperstein auf dem angeblich einzig richtigen Weg, Feindesliebe zu verwirklichen, ist schon seit langer Zeit, dass zwar viele sie propagieren , aber nur wenige sie praktizieren können. Ein ungeklärtes Problem der christlichen Pflicht zur Liebe war von Anfang an die Frage, ob Menschen überhaupt dazu in der Lage sind, ihr nachzukommen, ob es nicht vielmehr zur unerträglichen Belastung für sie wird, unentwegt lieben zu müssen, um schließlich unter der Last unterdrückter Schuldgefühle zusammenzubrechen, wenn es nicht gelingt.
Aber es gibt noch eine weitere Möglichkeit des Umgangs mit Feinden, einen anderen Weg der Feindesliebe . Diese Liebe der anderen Art trägt dem Bedürfnis nach Abwendung und Abneigung, nach Gleichgültigkeit und Hass Rechnung, dem Menschen offenkundig nicht so ohne Weiteres entkommen. Gerade auf dieser Grundlage könnte eine andere Art der Zuwendung und Zuneigung möglich werden, die im alltäglichenLeben realisierbar ist und einen überbordenden Hass wirksam einzudämmen vermag, ohne hohen moralischen Ansprüchen genügen zu müssen. Die erste Option der Feindesliebe ist und bleibt die Überwindung von Feindschaft mit Mitteln der Liebe und unter Einsatz des eigenen Selbst. Bei der zweiten Option bindet sich das Selbst ebenfalls an den Wert der Feindesliebe, aber auf eine Weise, bei der die Feindesliebe ergänzend zu ihrer herkömmlichen Bedeutung eine weitere Bedeutung gewinnen kann: Anstelle der Überwindung die Bewahrung von Feindschaft .
Von der Bewahrung der Feindschaft: Was Feinde nützen können
Bereits Thomas von Aquin zog diese zweite Option in Betracht, hielt es jedoch für »pervers«, Feinde als Feinde zu lieben und damit das Böse, das er ihnen schlicht unterstellte, nicht mehr überwinden zu wollen ( Summa theologiae , II, 25, 8). Zumindest übergangsweise, solange die Überwindung noch auf sich warten lässt, könnte jedoch die Befreundung mit dem Gedanken reizvoll sein, dass die Feindschaft wertvolle Zwecke erfüllt, Sinn in diesem Sinne bereitstellt und zumindest aus diesem Grund zu pflegen und zu kultivieren wäre: Kann es eine Kultur der Feindschaft geben, die dieses Potenzial nutzt, die Destruktivität der Feindschaft aber eindämmt? Eine Ethik, die an der Liebe zu Feinden festhalten will, sollte das ins Auge fassen. Die Feindesliebe im anderen Sinne läuft nicht mehr darauf hinaus, eine Feindschaft abtun oder gar auflösen zu wollen, sondern Feinden nach Möglichkeit Freude zu machen und sie zu beglücken . Glücklich sind sie nicht etwa, wenn sie von der Feindschaft erlöst werden, sondern wenn sie Groll hegen, wütend sein und im äußersten Fall Hass empfinden können,um schließlich das Negative, das sie in sich fühlen, Anderen außerhalb ihrer selbst anzuhängen. Daraus ergibt sich die Verpflichtung des Selbst, ihnen Stoff zu liefern und nicht müde darin zu werden, immer neues Material heranzuschaffen: »Tut Gutes denen, die euch hassen.«
Auch das angefeindete Selbst profitiert davon und aus diesem Grund verdienen Feinde eine aufrichtige Wertschätzung als Feinde . Für die Rolle, die sie spielen, sollten sie auf keinen Fall Abschätzung erfahren, damit sie nicht ihrerseits noch das Selbst auf dem Trockenen sitzen lassen, das einer Feindschaft bei genauerem Hinsehen einiges verdankt: Die Feindschaft sorgt für Halt und Orientierung im Leben , denn sie zieht sich, wenngleich als negative Größe, wie ein roter Faden durch Lebensphasen oder das gesamte Leben hindurch und bürgt für Kontinuität, nicht selten in unveränderter Konstellation: »Man kennt sich!«
Eine weitere dankenswerte Eigenschaft der Feindschaft ist die Verknappung des hohen Guts der Liebe . Was einem Menschen lange als pure Selbstverständlichkeit erscheint, nämlich andere Menschen lieben zu können und von ihnen geliebt zu werden, tritt nun als besonderer Wert hervor: Die negative Erfahrung der Feindschaft sorgt dafür, der positiven Erfahrung der Liebe wieder sehr viel abgewinnen zu können, während eine Liebe, die keinen Gegensatz mehr kennt und jederzeit in beliebigem Maße verfügbar ist, allzu leicht an Wert verliert.
Erfreulich ist außerdem, dass dem Selbst eine große Aufmerksamkeit von seinen Feinden zuteilwird, beinahe mehr als von seinen Freunden. Jedes Detail seines Lebens und Arbeitens, Fühlens und Denkens ist für
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