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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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applaudieren? Das wäre zu viel von ihm verlangt und würde mich zu wenig herausfordern. Soll er frei von Neid sein? Das wäre schade, denn Neid ist »die aufrichtigste Form der Anerkennung« (wenngleich dieses Wilhelm Busch zugeschriebene Zitat in seinem gesamten Werk nicht aufzufinden ist). Soll der Feind sich in seinen Anfeindungen mäßigen? Das würde eine Fähigkeit zur Selbstmächtigkeit auf seiner Seite voraussetzen, die mich meinerseits noch vor Neid erblassen lassen könnte.
    Die schärfste Waffe gegen einen Feind ist ohnehin gar nicht die Feindseligkeit gegen ihn, mit der er fest rechnet, sondern die Freundlichkeit , auf die er nicht gefasst ist. Sollte er ganz aus der Energie der Feindschaft heraus leben und arbeiten und nicht über eigene Ressourcen verfügen, könnte ihn dies sogar seiner inneren Auszehrung überlassen. Ihm mit Freundlichkeit den Boden zu entziehen, auf dem er sein Unwesen treibt, darf als besonders perfide Strategie des Umgangs mit ihm gelten. Wenn ich davon Gebrauch mache, wird er sich noch wundern, warum er plötzlich »in der Luft hängt«, und er wird sich nicht erklären können, wie es dazu kommen konnte, ich jedenfalls hätte damit nichts zu tun.
    Am wirksamsten ist jedoch nicht die aufgesetzte, falsche , sondern die ernstgemeinte, wahre Freundlichkeit , die in der aufrichtigen Wertschätzung für ihn und seine Arbeit zum Ausdruck kommt. Ich als sein schärfster Konkurrent vermag sein Können wahrscheinlich besser als Andere einzuschätzen, und dass gerade ich auch dazu bereit bin, es zu würdigen, nötigt dem Feind oder dem feindselig erscheinenden Anderen heimliche Bewunderung ab. Ihm Freundlichkeit entgegenzubringen, entwaffnet ihn, beraubt ihn also der Waffen, die er in Stellung gebracht hat. Oder sind diese ohnehin nur meiner Phantasie entsprungen? Sollte er tatsächlich von feindseliger Gesinnung beseelt gewesen sein, schwindet jetzt in seinen Augen, erst recht in den Augen Anderer, seine Berechtigung dazu. Schon den frühen Propagandisten der anspruchsvollen christlichen Feindesliebe ist dieser Effekt nicht unbekannt geblieben: »Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt« (Paulus, Brief an die Römer , 12, 20).
    Bei einer anhaltenden Freundlichkeit kann aus Feindschaft zuletzt noch Freundschaft werden, eine sehr innige sogar, denn die Kombattanten hatten ausreichend Zeit und Gelegenheit, sich eingehend kennen und schätzen zu lernen. Sie verfügen über gemeinsame Erfahrungen und eine gemeinsame Geschichte und haben sich viel zu sagen. Immer wieder ist zu beobachten, wie Menschen auf der anderen Seite einer ehemaligen Front aus eigenem Antrieb nach den früheren Feinden suchen, denen sie sich schicksalhaft verbunden fühlen. Mit vielen individuellen Initiativen konnten Deutsche und Franzosen eine unselige politische Geschichte hinter sich lassen.
    Neben der kultivierten Bewahrung kommt damit nun jedochvon Neuem eine mutige Überwindung der Feindschaft in den Blick, wenngleich unter ganz anderen Vorzeichen: Sie ist keine verpflichtende Norm mehr, der fraglos Folge zu leisten wäre, sondern eine freie Form des Verhaltens, aufgrund eigener Überlegung von einem Menschen gewählt. Angesichts all dieser Möglichkeiten der Feindesliebe drängt sich die Frage auf, wie mehr Gebrauch von ihnen gemacht werden kann, statt im archaischen Hass auf Feinde zu verharren: Interessiere ich mich selbst zu wenig dafür? Mangelt es mir an der inneren Bereitschaft dazu? Wie kann ich mich in die anderen Möglichkeiten einüben, sofern mir ihre Verwirklichung erstrebenswert erscheint? Wie kann dies über das persönliche Umfeld hinaus in der Gesellschaft geschehen, in der Feindschaften mit einer Unversöhnlichkeit gepflegt werden, als hinge das Leben davon ab? Hängt es tatsächlich davon ab?
    Auseinandersetzungen zwischen Rauchern und Nichtrauchern, Hundehaltern und Hundehassern, Fleischessern und Vegetariern, Gläubigen und Nichtgläubigen, Gläubigen und Andersgläubigen, Gutgelaunten und Schlechtgelaunten, Schleichern und Rasern, Autofahrern und Radfahrern, Radfahrern und Fußgängern, Fußgängern und Autofahrern lassen bisweilen ahnen, wie leicht es ist, die Schwelle zum Bürgerkrieg zu überschreiten. Allzu bereitwillig fügen Einzelne sich in Muster der Feindschaft ein, die sie in ihrer sozialen Umgebung vorfinden. Sich diese Muster bewusst zu machen, um in sie eingreifen zu können,

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