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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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ausfüllen lässt.
    Ein tieferer Sinn des Phänomens könnte sich aus der energetischen Erklärung ergeben: Nur zwischen gegensätzlichen Polen können Energien fließen, daher bedarf das Leben zusätzlich zum positiven Pol von Beziehungen der Liebe, der Freundschaft, der guten Kollegialität, Bekanntschaft und Nachbarschaft eines negativen Pols . Zwischen positiv und negativ empfundenen Beziehungen, auch Aspekten innerhalb einer Beziehung, hält das Leben seine Grundspannung aufrecht und kann sie, sollte sie sich verlieren, wie aus dem Nichts heraus von Neuem erzeugen.
    Der Sinn der Feindschaft ist die Differenz , die auch aus kaum wahrnehmbaren Unterschieden eine spürbare Spannung entstehen lassen kann. Gelänge es, Feinde wirklich oder auch nur symbolisch zu eliminieren, würde dies die Spannung des Lebens unterminieren. »Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht« (Immanuel Kant, »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, Aufsatz, 1784, Vierter Satz).
    Grundsätzlich müsste es möglich sein, sich gegen dieses Negative im Leben zu stellen und dem Feindsein feind zu sein, um das Positive allein übrig zu behalten, aber das will kaum jemandem gelingen, ganz im Gegenteil: Alle menschlichen Verhältnisse scheinen unbewusst einer Notwendigkeit zur Wiederherstellung der Polarität zu folgen. Jede Betonung eines Pols treibt individuell und gesellschaftlich, privat und politisch eine Bewegung zum Gegenpol hervor. Das könnte der Grund dafür sein, dass gerade dann, wenn gesteigerter Wert auf den positiven Pol gelegt wird, der negative seine Rechte wieder geltend macht. Wo die Wonnen des Gewöhnlichen überhandnehmen, wird die Versuchung zu einem kräftigen Kontrapunkt übermächtig. Wo der Konsens zu groß wird, sodass für Anderes, Abweichendes, Ärgerliches und Störendes kein Platz mehr bleibt, wächst das Potenzial für den großen Knall heran.
    Das Übermaß des Negativen treibt im Gegenzug zum Positiven an: Wo Hass und Feindschaft zu sehr dominieren, erstrahlen Liebe und Freundschaft in hellerem Licht. Werden aber Liebe und Freundschaft zu sehr beschworen, üben Hass und Anfeindung eine dunkle, unheimliche Anziehungskraft aus. Beinahe lässt sich in diesem Fall von einer Liebe zum Hass sprechen, denn auch das Hassen können Menschen lieben, bereits zwischen zweien ist eine solche Erfahrung möglich, ohne dass sie verstehen könnten, was da geschieht. In ihrer Ratlosigkeit und Verzweiflung erheben sie Schuldvorwürfe gegeneinander, die alles nur noch schlimmer machen, da keiner sich wirklich schuldig fühlt, oder sie flüchten sich in Selbstvorwürfe, der Selbstverpflichtung zur immerwährenden Liebe nicht ausreichend nachgekommen zu sein. Aus Angst um die Liebewerden Auseinandersetzungen, die die Spannungen entladen könnten, vielleicht nicht rechtzeitig geführt. Kommt es dann zu Ausbrüchen gegen den jeweils Anderen, machen Heftigkeit und Unversöhnlichkeit einen Neuanfang schwer.
    Bei allen Feindseligkeiten zwischen Menschen wäre es nicht erforderlich, die verteilten Rollen mit moralischen Etiketten auszustatten, aber mit Vorliebe geschieht genau dies, vermutlich um die energetische Ergiebigkeit zu steigern. Unverkennbar richtet sich ein Bedürfnis darauf, wertende Begriffe einzusetzen und mithilfe von Begriffspaaren sich selbst und Andere klar auf der Seite des Positiven und Negativen zu verorten, damit auch das seine Ordnung hat. Ungern wird graduell unterschieden , wonach sich jemand teils gut, teils ungut verhält. Gerne wird dichotomisch geschieden , ohne jede gemeinsame Schnittmenge, sodass ein Verhalten gut oder ungut, gut oder schlecht, gut oder übel und, am schärfsten zugespitzt, gut oder böse erscheint.
    Und in den Augen vieler erscheint das nicht nur so, sondern es ist so. Zwar ist ohne menschliche Deutung und Wertung ein Gut und Böse schwerlich vorstellbar, darauf machten schon Friedrich Nietzsche und noch früher Ludwig Feuerbach aufmerksam (Opponentenrede Über das Böse und seinen Ursprung von 1828, wieder aufgegriffen in den Vorlesungen über Logik und Metaphysik von 1829, Gesammelte Werke , Nachlass 1, 1999). Auch Shakespeares Hamlet (II, 2) meinte, dass es »nichts Gutes oder Böses gibt, das Denken macht es erst dazu«. Aber wo ein Begriff ist, da ist auch eine Wirklichkeit, davon gehen die meisten Menschen aus: Böse ist dann wirklich böse und kaum einer stellt noch eingehendere Fragen, mit

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