Dem Leben Sinn geben
Versuch zur Eliminierung widersetzen, stellt sich darüber hinaus die Aufgabe, es auf verträgliche Weise ins Leben zu integrieren. Das Andere der Liebe, das im Hass erfahrbar wird und im Bösen zum Vorschein kommt, müsste zudiesem Zweck in anderer Form gelebt werden können. Die Voraussetzung dafür wäre, das Ärgernis dieses Anderen von vornherein mit einzukalkulieren und ihm eine lebbare Rolle im eigenen und gemeinsamen Leben zu geben. Es für legitim zu halten und in gemäßigter Form zum Ausdruck zu bringen, könnte dem Seelenheil des Einzelnen und ganzer Gruppen von Menschen förderlicher sein als alle moralische Verdammung, die theoretisch gut klingt, aber praktisch folgenlos ist.
Von den Freuden der Bosheit: Die Kunst, sich Feinde zu machen
Selbstverständlich bleibt es ein erstrebenswertes Ziel im Leben, ein guter Mensch zu sein. Aber nicht ohne Unterlass. Ein Teil der Lebenskunst, der bewussten Lebensführung, besteht darin, gute und böse Seiten im eigenen Selbst auszubalancieren, und das heißt, ihnen abwechselnd gerecht zu werden. Alles ist gut, was der Triebabfuhr des Bösen dient, das zwar bei vielen im überschaubaren Rahmen bleibt, bei manchen aber umso üppiger wuchert. Es entlastet den Energiehaushalt des Menschen, sein explosives, destruktives Potenzial, das neben dem braven, konstruktiven vor sich hinköchelt, nach außen richten zu können, um »Dampf abzulassen«, nicht etwa ein für allemal, sondern stets von Neuem. Energie wird abgebaut, indem sie freigesetzt wird. Einer wie Schopenhauer, so zeigte sich Nietzsche überzeugt, wäre krank geworden ohne all das, wogegen er wüten konnte, »ohne seine Feinde, ohne Hegel, das Weib, die Sinnlichkeit und den ganzen Willen zum Dasein« ( Zur Genealogie der Moral , 1887, III, 7).
Verschließt ein Mensch sein destruktives Potenzial in sich, gefährdet er die Integrität seines Selbst. Um dem zu entgehenund das bedrohliche Andere aus sich herauszusetzen, statt im Inneren davon zernagt zu werden, sind viele Menschen bedenkenlos zur Feindschaft bereit. Sie folgen damit einem vitalen Impuls, der sich von selbst einstellt und sie dazu antreibt, eine neue Feindschaft zu begründen oder eine alte zu erneuern, egal gegen wen. Diesen Impuls im eigenen Inneren zu erkennen, ihn anzuerkennen und sich mit ihm zu befreunden, macht es leichter, auf verträgliche Weise damit umzugehen.
Alte Kulturen waren sich über diese Zusammenhänge im Klaren und versuchten darauf zu antworten. Die antike Tragödie zog die Zuschauer sinnlich, in Gefühlen und Gedanken in die Verstrickungen des Bösen hinein, um sie innerlich und äußerlich aufzuwühlen und die entstehende Spannung zur Entladung zu bringen: So war die Katharsis , die Reinigung von den Affekten zu erreichen, die Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr. in seiner Poetik beschrieb. Das Böse zu durchleben, ohne ernsthaft Leid zuzufügen oder zu erfahren, hängt von den Medien und Verhaltensweisen ab, die es zur Geltung bringen können, ohne großen Schaden anzurichten.
Hat auch die moderne Kunstform des Krimis eine solche Wirkung? Ist so sein Siegeszug auf dem Buch- und Filmmarkt erklärbar? Aber auch die dunkleren Schattierungen der Erotik , die auf dem Einverständnis aller Beteiligten beruhen, sind dazu geeignet, böse Impulse in privaten Räumen, in Darkrooms und anderen Etablissements auszutoben, bis zur völligen Erschöpfung, zumindest für eine Weile. Ansonsten sorgen Zornausbrüche für Erleichterung, möglichst in kalkulierten Grenzen, sowie Auseinandersetzungen mit Worten, bei denen der, der die Rolle des Bad Guy auf sich nimmt, sein Gegenüber dazu veranlasst, die Position des Guten noch einmal zu überdenken und sie mit besseren Argumenten zu vertreten.
Eine leicht verfügbare, alltägliche Möglichkeit aber ist die Bosheit . Das gute Leben verlangt nach einem Gegenpol, die Bosheit stellt ihn zur Verfügung, in allen Ausformungen und Abstufungen von der bloßen Andeutung, die die Sensibilität des Anderen abtastet, bis zur offenen Polemik, die ihm die boshaften Energien frontal ins Gesicht schleudert. Beinahe könnte sogar von einer Pflicht zur Bosheit die Rede sein, die sich daraus ergibt, dass sich das Bedürfnis nach Bösem ansonsten gefährlich anstaut. Bevor alle Dämme brechen, muss wenigstens einer zur Bosheit bereit sein, eigentlich eine gute Tat, die meist schlecht vergolten wird: Niemand liebt den, der mit der Nadel piekst oder Gift und Galle spuckt. Dabei wird der Hass auf diese Weise
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