Dem Tod auf der Spur
Zeitpunkt der Obduktion schon vergangen, hätten alleGelenke durch die Totenstarre vollkommen hart und steif sein müssen. Auch passte es vordergründig nicht zu der Tatsache, dass man die Leichenflecke immer noch wegdrücken konnte; ab etwa 12 bis 14 Stunden nach dem Tod sind Leichenflecke »fixiert« und nicht mehr optisch zu manipulieren.
Dieses scheinbare Paradox war ein weiterer Hinweis, dass wir es mit einem bekannten Sonderfall zu tun hatten – Tod durch Erfrieren. In solchen Fällen ändern sich die Parameter: Wegen der zunehmenden Auskühlung des Körpers sinkt die Körpertemperatur des Erfrierenden schon zu Lebzeiten erheblich unter 37 Grad Celsius ab. Ein unterkühlter Mensch stirbt bei einer Körpertemperatur von etwa 25 Grad, da es bei diesem Wert zu irreversiblen Herzrhythmusstörungen (»Herzkammerflimmern«) kommt. In der Rechnung der Temperaturmethode bedeuten 12 Grad weniger Ausgangskörpertemperatur eine um 12 Stunden spätere Todeszeit. Egon Gillert starb an Unterkühlung bei einer Körpertemperatur von etwa 25 Grad, erst danach bildeten sich Leichenflecke und Leichenstarre. Zum Zeitpunkt der Untersuchung war seine Körpertemperatur bereits auf 23 Grad gesunken, er war also gemäß der obigen Formel fünf, nicht siebzehn Stunden zuvor gestorben. Das erklärte auch die noch wegdrückbaren Leichenflecken und die unvollständige Leichenstarre.
Der Mediziner spricht bei Körpertemperaturen von unter 35 Grad Celsius von »Hypothermie« (das griechische Wort für Unterkühlung). Stirbt jemand an Unterkühlung, heißt es im rechtsmedizinischen Protokoll entsprechend
»Todesursache: Hypothermie«
oder auch
»Erfrierungstod«.
Eigentliche Todesursache sind wie bereits erwähnt die von der niedrigen Körpertemperatur verursachten Herzrhythmusstörungen. Verschiedene andere Faktoren können bei einer Unterkühlung den Erfrierungstod beschleunigen: schon vorher bestehende innere Erkrankungen, Immobilität und die dadurch fehlende Muskelbetätigung, die bei Gesunden Wärme erzeugt; eine schlechte Gesamtkondition; langfristige physische Belastung; chronische Unterernährung; feuchte oder nasse Bekleidung und vor allem starker Alkoholkonsum. Auch sind Kinder stärker gefährdet als Erwachsene, da Kinder eine im Verhältnis zum Körpergewicht größere Körperoberfläche als Erwachsene haben und entsprechend mehr Körperwärme abgeben.
Ab 35 Grad Celsius lässt die körpereigene Wärmeproduktion nach, der Stoffwechsel wird heruntergefahren, das Blut verdickt sich, und es können sich Thrombosen (Blutgerinnsel) bilden. Atmung, Blutdruck und Pulsfrequenz des Unterkühlten verlangsamen sich. Dennoch kommt es bei Unterkühlten bis zu einer Körpertemperatur von circa 32 Grad zu keiner Einschränkung des Bewusstseins, d.h., der Betroffene wird nicht bewusstlos oder fällt ins Koma; er spürt nur die Kälte. Sinkt die Körpertemperatur weiter unter 32 Grad ab, wird der Pulsschlag noch langsamer, und auch der Blutdruck sinkt weiter ab, und ab jetzt kommt es zur Bewusstseinstrübung.
Paradoxerweise kann sich bei stark unterkühlten Personen, vermittelt durch ein kompliziertes Netzwerk verschiedener Botenstoffe (»Transmittersubstanzen«), die im Gehirn freigesetzt werden, ein Gefühl innerer Wärme einstellen. Durch die Bewusstseinstrübung verlieren Unterkühlte oft die Orientierung und stürzen unkontrolliert zu Boden. Ab etwa 25 Grad Körpertemperatur setzt Herzkammerflimmern ein, und es kommt schließlich zum Tod durch langsam einsetzenden Herzstillstand.
Todesfälle durch Unterkühlung begegnen uns Rechtsmedizinern aus naheliegenden Gründen fast ausschließlich in den kalten Monaten November bis Februar. Opfer sind hauptsächlich Obdachlose, die im Freien übernachten, aber durchaus auch Wintersportler, die mit falscher Kleidung oder in erschöpftem oder alkoholisiertem Zustand Ski fahren oder auf Berge steigen. Allerdings, und das wird viele überraschen, ist ein Tod durch Unterkühlung auch bei plus 10 Grad Celsius Umgebungstemperatur möglich. Ich weiß von sozial schwächer gestellten Menschen, die in ihrer Wohnung auch bei Plusgraden erfroren sind – weil sie entweder ihre Wohnung aus Kostengründen kaum beheizt hatten oder ihnen die Heizung vom Energieversorger wegen ausstehender Rechnungen abgestellt worden war. Die Annahme, man würde nur bei Minusgraden erfrieren, ist falsch. Laut Statistik wird in Deutschland fast die Hälfte aller an Unterkühlung Gestorbenen in ihrer unbeheizten Wohnung
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