Dem Tod auf der Spur
missbraucht noch ermordet worden. Und die Vorstellung, dass er sich bei Minustemperaturen mit einer Freundin oder einem Freund für eine lauschige Liebesnacht auf dem Spielplatz entkleidet hatte, war trotz Trunkenheit zu abwegig, um sie überhaupt in Betracht zu ziehen. Trotzdem hatte Egon Gillert sich selbst entkleidet. Warum?
Die 1,89 Promille Alkohol waren, wie ausführlich erklärt, ein Teil der Wahrheit. Und der andere?
Was Nichteingeweihten wie ein Mysterium erscheint, ist in Wahrheit der deutlichste Hinweis, dass der Mann tatsächlich an nichts anderem als an Unterkühlung gestorben ist: Jedem Rechtsmediziner begegnet hin und wieder das Phänomen, dass Unterkühlte kurz vor Bewusstseinsverlust und nachfolgendem Tod ihre Kleidung ausziehen. Das sogenannte »paradoxe Entkleiden«, auch »Kälteidiotie« genannt, rührt von dem oben schon erwähnten Wärmegefühl her: Der Erfrierende bildet sich ein, ihm wäre heiß, und tut das, was Menschen bei tatsächlicher Hitze tun, sofern die Situation dies zulässt: Er reißt sich die Klamotten vom Leib. Sind die am Leichenfundort eingesetzten Polizeibeamten nicht mit diesem Phänomen vertraut, wird der Umstand, dass die oder der Tote nackt ist (»Leiche liegt nackt im Park«), häufig als Hinweis auf ein vorangegangenes Sexualdelikt interpretiert. Ermittlungen können so schon mal in eine vollkommen falsche Richtung laufen.
Dabei ist die Kälteidiotie ähnlich wie der Erfrierungstod in Kombination mit Alkohol kein seltenes Phänomen. Über die Hälfte aller Erfrierungstodesfälle in Deutschland ereignet sich in Kombination mit diesem paradoxen Entkleiden.
Ich erinnere mich noch an den Fall eines 78-jährigen Rentners, der tot und völlig unbekleidet im Winter in seinem Garten gefunden wurde. Er war schwer betrunken aus einer Kneipe nach Hause zurückgekehrt und hatte seinen Schlüssel nahe dem Haus verloren. Wühlspuren im Rasen zeigten, wo er nach dem Schlüssel gesucht haben musste, bis bei ihm, bedingt durch Kälte und zusätzlichen Alkoholeinfluss, das paradoxe Wärmegefühl eingesetzt hatte. Er hatte dann Schuhe, Hose, Jacke, Mantel und Mütze von sich geworfen und war im Garten erfroren.
Ein Kollege von mir erzählte mir von einem bizarren Fall, mit dessen rechtsmedizinischer Untersuchung er betraut war. Dabei wurden im tiefen Winter zwei übel zugerichtete Obdachlose nackt und tot in einem Park im Ruhrgebiet aufgefunden, ihre Kleidung war über den gesamten Park verstreut. Nachdem die Polizei zunächst, ähnlich wie in unserem Fall, spekuliert hatte, ob sie es mit einer brutalen Vergewaltigung zu tun hatten, führte die Obduktion zu entscheidenden Hinweisen auf den tatsächlichen Geschehensablauf: Die beiden Obdachlosen hatten sich gemeinsam mit billigem Schnaps betrunken und waren dabei durch die Gegend gezogen. Als sie den Park erreicht hatten, entwickelte sich zwischen ihnen ein Streit, der in eine heftige Prügelei mündete. Abschürfungen, Schwellungen, Nasenbeinbrüche und Platzwunden waren den beiden gemäß der rechtsmedizinischen Rekonstruktion nicht von einem Dritten, sondern jeweils vom Gegenüber beigebracht worden. Erschöpft von der Prügelei und narkotisiert vom Alkohol dämmerten beide langsam ein, entwickelten in ihrem deliranten Zustand ein paradoxes Wärmegefühl, zogen sich aus und erfroren dort im Park.
Wenn Menschen hierzulande erfrieren, geschieht dies meist selbstverschuldet und ohne Einwirkung Dritter. Man erfriert und wird nicht erfroren.
Trotzdem kann der Tod durch Unterkühlung, auch wenn er von niemandem absichtlich herbeigeführt wird, strafrechtlich von Bedeutung sein, und zwar dann, wenn hilflose Menschen bei niedrigen Außentemperaturen oder in kalten Räumen zurückgelassen werden. Hätte beispielsweise ein Saufkumpan Egon Gillert in dessen hochgradig betrunkenem Zustand, und damit mehr oder weniger hilflos, auf dem Spielplatz bei Minustemperaturen zurückgelassen, könnte das den Strafbestand der unterlassenen Hilfeleistung bzw. des Aussetzens erfüllen. So heißt es in § 323c des deutschen Strafgesetzbuches zur unterlassenen Hilfeleistung:
»Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft.«
Über Aussetzung informiert § 221:
»(1)Wer einen Menschen 1. in
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