Dem Tod auf der Spur
Bergheim in aller Frühe ihren Hund ausführt. Sie wird das Fest wieder allein verbringen, vielleicht wird ihr Sohn anrufen, ein Nachbar wird kurz klingeln. Ansonsten wird nicht viel passieren. So wie in der gesamten Vorweihnachtszeit nichts passiert ist, am ersten und am zweiten Advent. Der Dackel ist das einzige Lebewesen, das immer Zeit für sie hat. Sie wird sich beim Bäcker ein Brötchen holen. Auch wie immer. Es ist kalt, grau und diesig, das gleiche Wetter wie an allen Tagen zuvor, und Ilse Bergheims Knochen schmerzen. Während der Woche, wenn die Geschäfte geöffnet sind, geht sie normalerweise noch einkaufen. Bei Edeka um die Ecke, immer die gleichen Waren, immer der gleiche Weg. Vorbei an den hässlich grauen Sozialwohnungen, wo sie lebt, den vollgeschmierten Garagen, vorbei an der Post und über die Kreuzung. Ihr Blick wandert wie immer zum Spielplatz. Zu den verlassenen Schaukeln, zur Wippe und dann über den Sandkasten hinweg, einfach, weil es sonst nichts anderes zu sehen gibt. So wie immer. Jeden Tag. Kinder spielen hier selten. Wahrscheinlich ist der Sandkasten längst nur noch ein Hundeklo.
Ilse Bergheim blickt schon wieder in eine andereRichtung, weil ihr die Erfahrung sagt, dass alles genau so gleich und langweilig ist wie immer. Doch auf einmal bellt ihr Hund so laut und anhaltend wie selten, und sie dreht sich um, um nachzusehen, was ihn so aufregt. Was sie sieht, reißt sie mit einem Mal aus ihrer Lethargie und lässt sie zusammenzucken.
Mitten im Sandkasten liegt ein nackter Mann. Fast nackt. Hose und Unterhose sind bis zu den Fußknöcheln heruntergezogen, die linke Hand des Mannes liegt auf seinem Bauch, die rechte Hand liegt ausgestreckt im Sand. Der Mann ist teilweise mit Sand bedeckt. An einem Fuß hat er noch eine weiße Tennissocke, die andere Socke liegt einige Meter weiter entfernt im Sand. Ebenso wie zwei Schuhe, eine Jacke und zwei Sweatshirts, die über den Spielplatz verstreut sind.
Schläft er? Bei der Kälte?
Ist er vielleicht betrunken?
Frau Bergheim nähert sich dem Mann vorsichtig und stupst ihn mit dem Fuß an. Keine Reaktion. Kein Lebenszeichen. Sie hat kein Handy, deshalb ruft sie einen Passanten herbei, der eins hat.
Etwa zehn Minuten später war die Polizei am Einsatzort, zunächst ein Streifenwagen mit zwei Polizisten, gefolgt von Rettungswagen und Feuerwehr. Die zwei Notärzte konnten nur noch den Tod des Mannes feststellen. Sein Körper hatte bereits Leichenflecke ausgebildet. Dem Aussehen nach war er zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt.
Für die Schutzpolizisten sah hier alles nach einemVerbrechen aus, denn welcher Mann würde sich nackt bei solch eisiger Kälte auf einen Spielplatz legen, um dort zu schlafen oder was auch immer zu tun?
Alles war möglich: ein Überfall, ein Sexualdelikt mit homosexuellem Hintergrund, Raubmord.
Noch während die Kripo im Anmarsch war, sperrten die Polizisten den Spielplatz ab. Auch die Kollegen von der Kripo konnten sich zunächst keinen Reim darauf machen, was sich hier ereignet hatte. Also spielten sie verschiedene Szenarien durch. Dass es sich um ein Tötungsdelikt handelte, schien wahrscheinlich. Auch sexuelle Handlungen an dem Mann, vor oder nach seinem Tod, waren durchaus denkbar, auch wenn noch keiner von einem Fall gehört hatte, bei dem ein etwa vierzigjähriger Mann bei eisiger Kälte auf einem Spielplatz sexuell missbraucht und im Anschluss daran getötet worden war. Ebenfalls unklar war, warum der oder die Täter das Opfer komplett ausgezogen hatte/n. War es eine Art Strafe? Ein Fall von Selbstjustiz an einem, der zuvor jemand anderen missbraucht hatte? Oder den jemand für den Triebtäter hielt?
Bei einer ersten Untersuchung des Toten konnten die Beamten keine äußeren Verletzungen feststellen. Wäre es ein Raubmord gewesen, hätte es Verletzungsspuren geben müssen. Außerdem, warum hätten der oder die Täter den Mann danach fast völlig entkleiden sollen? Um nach verstecktem Kleingeld oder Wertsachen zu suchen oder vom eigentlichen Tatmotiv abzulenken, indem man eine falsche Fährte legt? Unwahrscheinlich, schließlich erhöht jede Sekunde, die ein Täter nach der Tat am Ort des Geschehens zubringt, für ihn die Gefahr, beobachtet und so von Zeugen wiedererkannt zu werden. Außerdem zeigten die Taschen der Hose und der Jacke nicht nach außen, wie dies bei einer hektischen Plünderung fast immer der Fall ist. Die Kleidungsstücke waren zwar über die Sandkiste verstreut, aber nicht beschädigt.
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