Dem Tod auf der Spur
alles andere als Routine sein würde. Doch weder die inzwischen bekannten Fakten noch das, was mir die Kriminalpolizei im Vorfeld berichtet hatte, konnten mich auf das vorbereiten, was mich im Verlauf der nächsten sechs Stunden erwartete.
Ich betrachtete den kleinen nackten Körper vor mir auf dem Sektionstisch. Auf einem Tisch an dessen Fußende lag die Kleidung des Mädchens: ein grünes T-Shirt und eine blaue Latzhose, die Jessica über der Windel getragen hatte und die seit Wochen oder Monaten nicht gewechselt oder gewaschen worden war.
Ich habe gelernt, die analytische Distanz aufrechtzuerhalten, die der Job von mir verlangt, was allerdings nicht heißt, dass es nicht Dinge gibt, die ich nicht fassen kann. Die Eltern hatten den Notarzt gerufen, als sei es die normalste Sache der Welt, den Arzt zu rufen, wenn das eigene Kind verhungert ist. »Ich habe ihr immer etwas zu essen gegeben«, hatte die Mutter den Einsatzkräften zugerufen. So stand es im Protokoll. »Gestern Abend bekam sie Hühnchen mit Schokopudding.«
Was ich sah, schien die Aussage von Vera Fechner zu bestätigen: Mund und Kinn des Mädchens waren schmutzverklebt, mit einer klebrigen, dunklen Flüssigkeit, offenbar Erbrochenem. Hühnchen mit Schokopudding.
Vor der Leichenschau wird routinemäßig das Gewicht festgestellt. Jessica wog keine zehn Kilo – bei einer Körperlänge von 1,05 Metern! Normalerweise beträgt die Größe eines siebenjährigen Kindes zwischen 114 und 133 Zentimetern und das Gewicht zwischen 17 und 30 Kilogramm. Damit lag Jessica entsprechend der Waterloo-Klassifikation im Bereich schwerer chronischer Unterernährung.
Die Anzeige auf der Waage ließen zusammen mit dem Anblick der Toten vor meinem geistigen Auge Bilder von KZ-Opfern erscheinen, die ich während meiner Schulzeit in Büchern und Filmen gesehen hatte. Um Vergleichbares zu finden, mit dem ich zur Veranschaulichung mein Protokoll für die Gerichtsverhandlung untermauern konnte, musste ich später bis in die Archive des Warschauer Ghettos zurückgehen.
Die Leichenschau lieferte weitere Indizien. Keine Anzeichen mehr von Muskeln, von Fett oder von Gewebe. Ich sah nur pergamentartige, weißgelbe, dünne Haut, die sich wie Papier über die Knochen spannte, dieWangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen, das Haar war trocken, brüchig und kurz geschnitten, an einigen Stellen waren Büschel ausgerissen.
Anzeichen von äußerer Gewaltanwendung fand ich nicht, aber das war keine Überraschung – in diesem Fall ging es nicht um körperliche Gewalt, sondern um absolute Gleichgültigkeit: Jessica war nicht geschlagen oder misshandelt, sondern weggesperrt und aus dem elterlichen Leben verbannt worden.
Trotz der fehlenden Hinweise auf Vergewaltigung war die Anogenitalregion ein schockierender Anblick: After und Scheide waren mit borkigen Verkrustungen verschmutzt, und aus dem Enddarm ragte verhärteter Kot. Der ganze Bereich war stark entzündet. Später sah ich, dass auch Harnröhre, Blase und Nierenbecken eitrig entzündet waren.
Die Beinknochen waren stark nach innen gekrümmt – Zeichen einer fortgeschrittenen Rachitis. Einer von Jessicas Beinknochen war gebrochen und nicht mehr richtig zusammengewachsen, nachdem sie offenbar den Versuch unternommen hatte, aufrecht zu gehen. Die Knochen konnten aufgrund des Kalkentzugs das Körpergewicht nicht mehr tragen und verurteilten das Kind dazu, sich nur noch auf allen vieren fortzubewegen, bis Jessica am Ende sogar das versagt blieb. Eine später im Labor durchgeführte Blutuntersuchung ergab eine viel zu geringe Vitamin-D-Konzentration. Das war zu erwarten, denn der menschliche Körper kann dieses für den Knochenaufbau notwendige Vitamin nur dann selbst aus dem körpereigenen Cholesterin gewinnen, wenn er genügend UV-Licht bekommt. Vitamin D ist für den Calcium- und Phosphatstoffwechsel nötig und damit für den Zahn- und Knochenaufbau. Die Handwurzelknochen des siebenjährigen Mädchens wiesen die Skelettentwicklung einer Dreijährigen auf, was bis zu diesem Zeitpunkt weltweit noch in keinem einzigen Fall dokumentiert worden war. Jessica hatte ihr Dasein offensichtlich in totaler Finsternis gefristet.
Die Ermittlungen hatten bisher Folgendes ergeben: Jessica war zunächst in einer kleinen Ortschaft aufgewachsen. »Unauffällig, ein fröhliches Kind«, hatten frühere Nachbarn bestätigt, die das Kind noch gesehen hatten.Als dann die Eltern in die Stadt gezogen waren, begann das Martyrium.
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