Dem Winde versprochen
atmen. Er hielt die Luft zurück wie die Frage, die er sich nicht zu stellen traute. Béatrice lächelte ihm zu und streichelte seine feuchte, eingefallene Wange.
»Mein geliebter Bruder Louis, mein kleiner süßer Louis. Ich bin es, deine ältere Schwester, Marie-Thérèse-Charlotte, ›Madame Royale‹. Wir beide sind die Kinder von Louis XVI .,
dem König von Frankreich, und Marie Antoinette von Österreich.«
Pierre Désoite erblasste noch mehr. Mit einem gepressten Ausruf des Erstaunens ließ er sich in den Schaukelstuhl fallen. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und fing bitterlich an zu weinen. Béatrice eilte zu ihm und hielt ihn in den Armen. Schon ruhiger, schaute er auf, und während er sie ansah, wurden die Erinnerungen an seine Kindheit, an die Zeit des Glücks wieder wach.
»Wieso habe ich dich nicht erkannt, Marie?«
»Du warst noch sehr klein, als man uns im Temple-Gefängnis trennte, und ich habe mich sehr verändert.«
»Nein, jetzt, wenn ich dich so anschaue … Sag mal, hat der Graf dir gesagt, wer ich bin?«
»Roger hat kein Wort gesagt. Ich vermute, er hat dich hierher gebracht, um zu sehen, ob ich dich wiedererkenne.«
»Der Graf hat seine Zweifel, dass ich Louis XVII . bin.«
»Das kannst du ihm nicht übelnehmen. All die Schwindler, die sich als du ausgegeben haben, haben es schwer gemacht, dich zu finden. Er hat dich hierher gebracht, um dich zu schützen, weil er es für wahrscheinlich hält, dass du der Sohn von Louis XVI . bist.«
»Und wie hast du mich erkannt, Marie?«
»Als ich dich vor ein paar Tagen aus der Kutsche steigen sah – und da hatte ich noch nicht einmal deine Stimme gehört –, hüpfte mein Herz vor Freude. Mein erster Gedanke war: ›Das ist mein Bruder‹. Ich habe nichts gesagt, aus Vorsicht, und beschlossen zu warten. Später, als der Hund dich in den Arm gebissen hatte, konnte ich diese Narbe am Handgelenk sehen, die du seit deiner Geburt hast. Von diesem Moment an hatte ich keinen Zweifel mehr.«
»Die Narbe, die aussieht wie eine Lilie.«
»Das hat unsere Mutter immer voller Stolz gesagt, erinnerst
du dich?« Der junge Mann schaute zu Boden. »Die Tage mit dir hier sollten nur … Louis, was hast du? Warum weinst du, mein Lieber? Nein, bitte, keine Tränen mehr.«
»Verzeih mir, Marie!«, schluchzte er. »Durch meine Schuld ist unsere Mutter gestorben.«
»Louis, was redest du da? Dich trifft keinerlei Schuld. Beruhige dich.«
»Die Schuld quält mich seit frühester Jugend. Ja, es war wegen dieses Geständnisses, das Hébert mich niederschreiben und unterzeichnen ließ, in dem ich unsere Mutter so ungerecht verleumdet habe, dass sie unter der Guillotine starb. Ich war ein Feigling!«, rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Man hat mir mit dem Schafott gedroht, und ich wollte nicht sterben. Jetzt wünschte ich, ich wäre tot!«
»Sag so was nicht! Merkst du denn nicht, dass du mir die Lebensfreude zurückgeschenkt hast? Ich will, dass du bei mir bist, für immer, Louis. So viele unglückliche Jahre! Roger hat dafür gesorgt, dass wir wieder zusammen sind. Jetzt werden wir uns nicht mehr trennen und endlich glücklich sein können.«
Béatrice umarmte ihn so heftig, als würde sie sich an das Leben selbst klammern. In diesem Augenblick hörte man das Geräusch der Tür, die gegen die Wand schlug. William Traver trat herein und schaute den jungen Mann hasserfüllt an. Er hatte eine Weile gebraucht, bis er die beiden gefunden hatte, weil er sich ein paar Mal in den labyrinthischen Gängen des Hauses verlaufen hatte. Aber nun bestätigte sich, was er die ganze Zeit vermutet hatte.
»Señorita!«, rief er blind vor Zorn, drehte sich auf der Stelle um und verließ den Raum.
»William!«, stieß Béatrice aus. »Es ist nicht das, was Sie denken. Warten Sie! Ich kann es Ihnen erklären.« Sie rannte hinter ihm her
Louis blieb allein zurück, mit der Miniatur in der Hand. Er betätigte den Mechanismus erneut und strich über die feinen
blonden Haarsträhnen, die den drei Kindern von Louis XVI . und Marie Antoinette gehört hatten: Marie, Louis Joseph, der mit acht Jahren gestorben war, und seine eigenen.
Melody hörte, dass Blackraven und ein paar Männer über den baskischen Händler Martín de Álzaga sprachen.
»Der plötzliche Tod seines Neffen hat ihn daran gehindert, heute hier zu sein«, informierte sie Manuel de Anchorena.
»So, wie ich es verstanden habe, ist er ermordet worden«, meinte Blackraven.
»Ja«, erwiderte
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