Dem Winde versprochen
und folgte ihm. Melody fand, dass sie übernächtigt aussah. Die hellblauen Augen waren von dunklen Schatten umrahmt. Sie hingegen, die ja auch nicht viel geschlafen hatte, fühlte sich voller Energie und konnte es nicht erwarten, sich wieder in die Arbeit zu stürzen.
»Tritt ein, Marie«, sagte Blackraven. »Du siehst müde aus. Hast du schlecht geschlafen?«
»Ach, die Hitze«, gab sie vor.
»Du bist gestern bei der Soirée einfach verschwunden«, sagte er vorwurfsvoll. »Ich wollte mit dir sprechen.«
»Hat Trinaghanta dir nicht gesagt, dass ich wegen einer schlimmen Migräne im Bett lag?«
Blackraven nickte und deutete auf das Sofa. Er nahm neben ihr Platz und legte den Arm um sie.
»Seit wann hast du kein Vertrauen mehr zu mir, Marie?«
»Wovon sprichst du, Roger?«
»Ich spreche davon, dass dich etwas bedrückt und du zögerst, es mir zu sagen. Oder ist es gar deine Absicht, etwas vor mir zu verbergen?«
Béatrice schaute zu Boden und schüttelte den Kopf.
»Ich wollte heute mit dir darüber sprechen. Roger, mein Lieber, du hast meinen Bruder, den König von Frankreich, gefunden!«
Blackraven war sichtlich gerührt. Obwohl er es eigentlich erwartet
hatte – er hegte nur wenige Zweifel hinsichtlich der Identität von Désoite –, war die Bestätigung seiner Vermutung durch Marie die Krönung eines langwierigen Prozesses. Als er sich vor Jahren auf die Suche nach seinem Cousin und seiner Cousine gemacht hatte, ging es mehr als um Politik und die Interessen der Britischen Krone darum, einen Teil seiner Vergangenheit zurückzuholen.
»Bis du dir sicher?«
»Absolut. Ich glaube, ich war es die ganze Zeit über.«
»Als man mich von euch trennte, war Louis Charles noch nicht einmal geboren. Ich hatte nichts als deine Erinnerungen, und ich brauchte deine Bestätigung.«
»Die hast du, mein Lieber. Wir haben Louis Charles zurück.«
Sie umarmten sich schweigend.
»Marie, du musst mir verzeihen, dass ich nicht mit dir darüber gesprochen habe. Ich wollte dich nicht beeinflussen. Du bist die Einzige, der ich vertrauen kann.«
»Ich verstehe das, Roger. Du musst mich nicht um Verzeihung bitten. Du hast uns schließlich gerettet.« Sie streichelte über seine Wange und verspürte dasselbe Gefühl von Verlassensein und Eifersucht wie am Tag zuvor. »Wie hast du ihn gefunden?«
»Ach, Marie, das ist eine lange Geschichte voller Fehlschläge, Missverständnisse, Schwindel, Enttäuschung und Verrat. Doch sorgfältige Spionagearbeit hatte das Netz um Désoite, den echten Louis, immer enger gezogen. Und wie hast du es gemerkt?«
»Du wirst dich doch noch erinnern, dass ich schon bei der ersten Begegnung überwältigt war. Nenn es Instinkt, eine Ahnung, jedenfalls hat eine innere Stimme mir zugeflüstert, dass ich diese himmelblauen Augen und diese blonden Locken in einer anderen Zeit schon einmal gesehen habe. Ich habe mir ein paar Tage Zeit gelassen, um ihn kennenzulernen, um sein Vertrauen zu gewinnen,
damit er mir von sich und seiner Vergangenheit erzählt. Er zeichnet gern, das war schon als Kind so. Sein gutmütiges, fröhliches Wesen hat sich nicht verändert, genauso wenig wie sein gesunder Appetit. Die lilienförmige Narbe an seinem Arm war der endgültige Beweis, dass es sich um meinen verlorenen Bruder handelt. Gestern, auf der Soirée, fand ich den Mut, es ihm zu sagen.«
»Und wie hat er reagiert?«
»Er war tief gerührt. Er hätte nie gedacht, dass er mich noch einmal wiedersehen würde. Ich prüfte ihn ein letztes Mal und gab ihm das hier.« Sie öffnete die Hand und zeigte ihm die Miniatur, die ihrer Mutter Marie Antoinette gehört hatte. »Ich habe ihn gefragt, ob er sich an das Geheimnis erinnere, das diese Miniatur enthielt. Ohne zu zögern, drehte er sie um, betätigte den Mechanismus, und schon war sie auf.«
»Wem gehören die?«, wollte Blackraven wissen, als er die Locken sah.
»Meinen Geschwistern und mir. Meine Mutter trug die Miniatur immer bei sich. Sie trug sie immer an ihrem Mieder. An dem Tag, an dem man sie in eine andere Zelle brachte, als man sie von Tante Elisabeth und mir im Temple trennte und als der infame Prozess begann, der mit ihrer Hinrichtung endete, übergab sie sie mir. Und ich habe sie immer in Ehren gehalten.«
»Ich verstehe.«
Schweigend betrachteten sie das kleine Porträt. Blackraven dachte auch an seine Mutter, daran, wie sehnlichst er sich in den dunklen Jahren seiner Kindheit und frühen Jugend gewünscht hatte, ein Bild von ihr zu haben. Der
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