Dem Winde versprochen
drehten sich immer weiter, als würden sie Walzer tanzen.
»Du frierst«, sagte Blackraven schließlich. »Komm, es ist Zeit, herauszugehen.«
Melody ging als erste Richtung Ufer. Mit zwei Schritten war Roger bei ihr und sie rollten über den nassen Sand, als wären sie ein einziger Körper.
Pablo verließ das Zelt, das er mit Tommy Maguire teilte, und ging ein Stück, um dem Lärm und der Hitze im Lager der fahrenden Händler zu entfliehen. Er sehnte sich nach dem Frieden der Nacht, und in seiner Eile stolperte er ein paar Mal. Er fluchte laut, was ungewöhnlich für ihn war. Er war völlig verändert: Aus
dem friedfertigen, wortkargen jungen Mann war ein unleidlicher Mensch geworden, der am liebsten jeden, der ihm in die Quere kam, verprügelt hätte. Angefangen mit Tommy Maguire, der ihn seit dem Verschwinden des Medaillons mit der Goldkette mit seiner miserablen Laune quälte. Tommy lag ihm ständig damit in den Ohren, dass es die einzige Erinnerung an seine Mutter war. Und abergläubisch, wie er war, betrachtete er es als schlechtes Omen und wollte den Angriff auf die Sklavenlager verschieben.
Zum ersten Mal seit Jahren hatte sich Pablo ihm widersetzt. Seit Monaten planten sie den Überfall. Sie würden nicht die wochenlangen Vorbereitungen wegen des Diebstahls einer einfachen Kette über Bord werfen. Sie würden den Angriff ausführen und sich eine ordentliche Beute sichern, dann wäre es mit der Armut für immer vorbei. Er konnte dieses Nomadenleben in Not und Elend nicht mehr ertragen. Außerdem war da noch Melody. Er hatte sich fest vorgenommen, sie zurückzuerobern. Das würde ihm nicht gelingen, wenn er in Lumpen mit einem Karren daherkam.
Er erreichte die Ausläufer von El Retiro. Er ging den Abhang hinauf und betrachtete das Haus. Hinter einem dieser Fenster schlief Melody. Wehmut überkam ihn, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er drehte sich um zum Fluss, weil er die Bilder von Bella Esmeralda verscheuchen wollte.
Da erspähte er jemanden am Ufer. Eigentlich waren es zwei, wahrscheinlich zwei Sklaven, die sich liebten. Er schnalzte mit der Zunge und wandte sich ab. Schon als Kind hatte er es nicht leiden können, in die Intimität anderer einzudringen. Er schaute wieder hin, denn etwas an der Frau hatte ihn stutzig gemacht. Im Schutz der Dunkelheit schlich er den Abhang hinunter bis zu einem Gebüsch, hinter dem er sich verstecken konnte.
Die Frau saß auf ihrem Liebhaber, den Oberkörper nach vorne gebeugt. Der Mann stöhnte und presste seine Hände gegen ihren Rücken. Die Frau richtete sich auf, und als sie den Kopf in den
Nacken warf, flog die wallende Mähne nach hinten. Das Mondlicht fiel auf die kupferfarbenen Locken, die Pablo unter tausenden erkannt hätte.
Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und ihm wurde übel. Er flüsterte Melodys Namen und schüttelte den Kopf. Er hatte die Augen geschlossen, wollte nicht wieder hinschauen. Doch eine fatale Neugier brachte ihn dazu, die Hände herunterzunehmen und sich das Schauspiel erneut anzuschauen: die zarte Melody in den Händen dieses lüsternen englischen Aristokraten. So etwas machten nur Huren. Womit hatte er ihr gedroht, um sie zu diesem Akt zu zwingen? Er war ein Idiot gewesen, dass er an dem Abend im Stall nicht bemerkt hatte, was Blackraven mit Melody vorhatte. Zu dumm, dass der Messerstich ihn nicht getötet hatte.
Er sollte dazwischengehen und sie diesem dreckigen Engländer aus den Händen reißen, doch ihm fehlte der Mut dazu. Blackraven war ein unbesiegbarer Gegner. Dieser Engländer schien von einer Aura der Bedrohung und der Gewalt umgeben zu sein.
Zu dem Schmerz kam noch die Demütigung wegen seiner Feigheit hinzu. Blind vor Wut und Ohnmacht ging Pablo alle Möglichkeiten durch. Blackraven war nackt und schutzlos, er hingegen trug ein Messer in der Leibbinde. Vielleicht wäre es gar nicht so dumm, ihn anzugreifen, wenn er den Überraschungsmoment ausnutzte. Er stand auf und zog die Waffe, als er plötzlich Melody sagen hörte: »Roger, mein Geliebter!«
Das Bild dieser wunderbaren und unbekannten Frau, die sich verhielt, als sei sie vom Teufel besessen, machte ihn sprachlos. Das war nicht seine sanfte, unschuldige Melody. Der Schmerz war stärker als er. Er sank auf die Knie und weinte mit gesenktem Haupt, das Messer noch in der Hand.
Kapitel 20
Nach dem Frühstück sagte Blackraven zu Béatrice, er wolle mit ihr unter vier Augen sprechen. Sie nickte nur kurz, gab den Sklavinnen noch ein paar Anweisungen
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