Dem Winde versprochen
Straße musste ihr unter den Füßen wehtun.
»Ángela!«, rief er, als die Kleine vor ihm stand. »Um Gottes willen, was machst du denn hier draußen ohne deinen Umhang?«
Angelita keuchte. Durch die Anstrengung hatten ihre Wangen die Farbe eines reifen Pfirsichs bekommen. Sie sah liebreizend aus, obwohl sie nicht hübsch war. Im Unterschied zu den älteren Schwestern, die ihrer Mutter ähnlich sahen, kam die Kleine nach ihrem Vater. Sie hatte nicht die vollkommene Schönheit ihrer Schwestern, aber von klein auf schien sie von einer Aura aus Reinheit und Güte umgeben zu sein, die von einer mildtätigen Seele kündeten.
»Verzeihung, Exzellenz. Entschuldigen Sie meine Kühnheit. Aber ich muss mit Ihnen sprechen.«
»Es ist nicht gut, das hier zu tun, mitten auf der Straße. Es könnte dich jemand sehen.«
»Es geht auch schnell.«
»Na dann los, sag.«
»Ich weiß, dass mein Vater mit Ihnen über Miss Melody gesprochen hat.«
Blackraven bewunderte den Mut, den er in ihren Augen sah. Er wusste, dass Angelita ihn fürchtete.
»Ich bin sicher«, fuhr die Kleine fort, »es waren keine freundlichen Worte. Sie müssen wissen, Exzellenz, Miss Melody ist ein wunderbarer Mensch. Sehr christlich. Mit einem großen Herz. Mein Vater ist auch ein guter Mann, aber er hat es nicht verstanden, Miss Melodys Absichten richtig zu deuten. Bitte, Exzellenz, entlassen Sie sie nicht«, flehte sie, die Hände auf Brusthöhe gefaltet.
»Komm, ich bring dich zurück nach Hause.«
»Ich muss durch das Eselstor hineingehen. Meine Mutter darf nicht wissen, dass ich ausgebüxt bin.«
»Schön, dann eben durch das Eselstor.«
»Exzellenz?«
»Ja.«
»Wären Sie wohl so liebenswürdig, diese Briefe mit in Ihr Landhaus zu nehmen? Einen für Miss Melody und einen für meine Tante Leo. Onkel Diogo will sie nicht mitnehmen, weil er sich nicht über den Befehl meines Vaters hinwegsetzen will.«
»Du hast diese Miss Melody sehr lieb gewonnen, nicht wahr?«, fragte Roger und nahm die Umschläge an sich.
Sie nickte, ohne ihn dabei anzusehen.
»Würdest du gerne eine Zeit in El Retiro verbringen?«
»Oh, ja, liebend gern!«
»Ich werde mit deinem Vater sprechen.«
»Danke, Exzellenz, danke«, wiederholte sie, während sie zurückging und sich verbeugte, als würde sie sich von einem König verabschieden.
Blackraven dachte darüber nach, wie sehr sie sich in diesem letzten Jahr verändert hatte. Angelita musste allen Mut zusammengenommen haben, um heimlich das Haus zu verlassen und ihn mitten auf der Straße anzusprechen. Wer zum Teufel war diese Miss Melody, dass sie ein ängstliches, gehorsames kleines Mädchen dazu brachte, ein solches Verhalten an den Tag zu legen? Wer war sie, dass sie einen Mann wie Alcides Valdez e Inclán einfach erpresste?
Kapitel 4
Blackraven tauchte aus seinen Gedanken wieder auf. Er fragte sich, wie lange er schon hier gestanden und über die Ereignisse des gestrigen Tages im Haus der Valdez e Incláns nachgedacht hatte.
Er schirmte die Augen mit der Hand ab. Es war hell geworden, und die Sonne schien auf die Schlucht. In der Ferne konnte er die roten Dächer seines Landguts El Retiro erkennen, nach dem das ganze Gebiet benannt war, und den Glockenturm. Es handelte sich um einen prächtigen Bau aus den Anfängen des 18 . Jahrhunderts, eine Kopie der Sommerresidenz der Könige von Spanien mit Namen El Buen Retiro. Der damalige Gouverneur, Don Agustín de Robles, hatte sie in der offenkundigen Absicht bauen lassen, diesen Ort zu dem imposantesten und luxuriösesten von La Trinidad zu machen, wie Buenos Aires damals hieß.
Die Residenz bestand aus zwei Stockwerken, hatte über dreißig Zimmer, mehrere Säle, vier Innenhöfe, zwei Getreidemühlen, eine Ölmühle, einen Ziehbrunnen und einen Abstellplatz für die Kutschen. Das untere Stockwerk war von einem Wandelgang aus eleganten weißen Säulen umgeben, deren Kapitelle mit Blättern verziert waren. Um das obere Stockwerk, wo sich die Schlafräume befanden, zog sich eine Terrasse mit Balustrade. Der hintere Teil wurde durch eine geweißte Ziegelsteinmauer abgeschlossen, hinter der die Wasser des Río de la Plata strömten. Der Park war riesig, mit sanften Hügeln so weit das Auge reichte.
Der Besitz war von Hand zu Hand gegangen. Er hatte sogar als Sklavenlager der Compañía Francesa de la Guinea gedient,
die es allerdings ein paar Jahre später wegen der Klagen über den bestialischen Gestank, der sogar bis in die Stadt vordrang, aufgeben musste.
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