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Dem Winde versprochen

Dem Winde versprochen

Titel: Dem Winde versprochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florencia Bonelli
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Schmerzen drang immer wieder ein klarer Gedanke in sein getrübtes Bewusstsein: Wenn er redete, würden sein Vater und Jimmy binnen weniger Tage dieselbe Qual erleiden. Am Ende gaben sich die Folterer geschlagen und ließen ihn in einem Wald zurück, damit die Füchse und Schakale sich das Bündel menschlicher Überreste teilten, in das er sich verwandelt hatte.
    »Aber Gott dachte, ich hätte noch eine Chance verdient«, pflegte Fidelis zu seinen beiden älteren Kindern, Melody und Tommy, zu sagen, wenn er zu diesem Punkt in der Geschichte kam, »und deshalb schickte er mir Enda, die mich halbtot im Wald fand und über viele Wochen gesund pflegte.«
    Obwohl sie ihn nie barfuß gesehen hatte, wusste Melody, dass ihrem Vater am rechten Fuß drei Zehen fehlten und dass das ihm eigene Hinken, das er aus reinem irischen Stolz zu verbergen versuchte, auf die Qualen auf der Folterbank zurückzuführen war. Manchmal wünschte sie, Fidelis hätte ihr nie von seinen Qualen erzählt, aber dann schämte sie sich sogleich für diesen Gedanken, und ihr Zorn auf die Engländer wurde noch größer: Sie durfte nie vergessen, wer schuld war an dem Leid ihres über alles geliebten Vaters.
    »Die Engländer, die Religion und das Trinken, das sind die drei Flüche Irlands«, hatte der alte Maguire oft gesagt.
    Melody kniff die Augen zusammen und ihr Körper verkrampfte sich bei der Vorstellung, wie enttäuscht Fidelis wäre, wenn er erführe, dass seine Tochter für einen von ihnen arbeitete. Sie suchte nach Ausflüchten, legte sich Rechtfertigungen zurecht, die sie selbst sogleich wieder verwarf. Nein, es half nichts: Sie arbeitete für einen Engländer, und an diesem Verrat konnte nichts etwas ändern.
    Obwohl Roger Blackraven eigentlich gar nicht wie ein Engländer aussah. Man hätte ihn eher für einen Zigeuner halten können.
Die Engländer, die sich so vornehm gaben, trugen dezente, aber elegante Kleidung, waren groß und hager, hatten fahle Haut und hellblaue Augen. William White, der mit Alcides befreundete Händler, war ein typischer Angelsachse. Blackraven hingegen hatte etwas von einem Wegelagerer. Sie erinnerte sich, wie er am Morgen im Flur gestanden und den Raum förmlich eingenommen hatte.
    Melody seufzte und striegelte weiter Fuocos Rücken. Die Kinder, die wenige Schritte von ihr entfernt auf dem Boden saßen, wiederholten gerade die Viererreihe des Einmaleins.
    »Drei mal vier?«
    »Zwölf!«, antworteten sie im Chor.
    »Vier mal vier?«
    »Sechzehn!«
    Sie sah kurz zu ihnen hinüber. Was für ein schönes Bild sie abgaben, so aufmerksam saßen sie auf dem Boden, mit ihren braunen, schmutzigen Gesichtchen. Sie hingen geradezu an ihren Lippen. Die Kinder gaben ihr die Hoffnung zurück, die das Leben ihr immer wieder zu nehmen versucht hatte.
    »Vier mal fünf?« Keine Antwort. »Vier mal fünf?«, hakte sie nach. »Los, das wisst ihr. Gestern kam das wie aus der Pistole geschossen. Erinnert ihr euch noch, was das Geheimnis ist? Ihr müsst zum vorherigen Ergebnis vier hinzuzählen. Wie viel ist sechzehn plus vier?« Kein Mucks. »Was ist los?«, fragte sie und drehte sich um, den Striegel in der Hand.
    Roger Blackraven stand in der Stalltür. Er trug Reitkleidung und hatte eine Gerte in der Hand, die er gegen den Absatz des Stiefels schlug. Melody dachte: ›Für das, was er am Leib trägt, müsste ich jahrelang arbeiten.‹
    Blackravens Blick wanderte von den Kindern zu ihr. Auch Melody sah ihn an. ›Was für ein dunkler Geselle‹, dachte sie bei sich, und damit meinte sie nicht die gebräunte Haut und auch nicht das schwarze Haar. Dunkel wegen des harten Gesichtsausdrucks,
Spiegel einer zerrissenen Seele. Das kampflustige Gesicht eines Kriegers.
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Blackraven und zeigte mit der Gerte auf die Gruppe Sklaven, ohne den Blick von ihr abzuwenden.
    Als sie seine Stimme hörten, sprangen die Kinder auf und suchten die Nähe von Miss Melody. Sie ärgerte sich, dass er die Kleinen so erschreckt hatte.
    »Sehen Sie das nicht? Ein paar Kinder lernen das Einmaleins.«
    »Wo kommen sie her? Ich kann mich nicht erinnern, sie im letzten Jahr gesehen zu haben.« Er ging auf sie zu.
    »Juan Pedro und Abel sind die Kinder von Tecla, Ihrer Sklavin. Die anderen sind die Kinder der Wäscherinnen, die am Flussufer arbeiten.«
    »Ich weiß, wo sie arbeiten. Warum sind diese Kinder hier, wenn sie nicht von meinem Gut stammen?«
    »Sie sind meine Schüler«, sagte Melody, und Blackraven fragte sich, ob sie

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