Demian
Abraxas? Ich hatte das Wort nie gehört oder gelesen. »Der Gott heißt Abraxas!«
Die Stunde verging, ohne daß ich etwas vom Unterricht hörte. Die nächste begann, die letzte des Vormittags. Sie wurde von einem jungen Hilfslehrer gegeben, der erst von der Universität kam und uns schon darum gefiel, weil er so jung war und sich uns gegenüber keine falsche Würde anmaßte.
Wir lasen unter Doktor Follens Führung Herodot. Diese Lektüre gehörte zu den wenigen Schulfächern, die mich interessierten. Aber diesmal war ich nicht dabei. Ich hatte mechanisch mein Buch aufgeschlagen, folgte aber dem Übersetzen nicht und blieb in meine Gedanken versunken. Übrigens hatte ich schon mehrmals die Erfahrung gemacht, wie richtig das war, was Demian mir damals im geistlichen Unterricht gesagt hatte. Was man stark genug wollte, das gelang. Wenn ich während des Unterrichts sehr stark mit eigenen Gedanken beschäftigt war, so konnte ich ruhig sein, daß der Lehrer mich in Ruhe ließ. Ja, wenn manzerstreut war oder schläfrig, dann stand er plötzlich da: das war mir auch schon begegnet. Aber wenn man wirklich dachte, wirklich versunken war, dann war man geschützt. Und auch das mit dem festen Anblicken hatte ich schon probiert und bewährt gefunden. Damals zu Demians Zeiten war es mir nicht geglückt, jetzt spürte ich oft, daß man mit Blicken und Gedanken sehr viel ausrichten konnte.
So saß ich auch jetzt und war weit von Herodot und von der Schule weg. Aber da schlug unversehens mir die Stimme des Lehrers wie ein Blitz ins Bewußtsein, daß ich voll Schrecken erwachte. Ich hörte seine Stimme, er stand dicht neben mir, ich glaubte schon, er habe meinen Namen gerufen. Aber er sah mich nicht an. Ich atmete auf.
Da hörte ich seine Stimme wieder. Laut sagte sie das Wort: »Abraxas.«
In einer Erklärung, deren Anfang mir entgangen war, fuhr Doktor Follen fort: »Wir müssen uns die Anschauungen jener Sekten und mystischen Vereinigungen des Altertums nicht so naiv vorstellen, wie sie vom Standpunkt einer rationalistischen Betrachtung aus erscheinen. Eine Wissenschaft in unserem Sinn kannte das Altertum überhaupt nicht. Dafür gab es eine Beschäftigung mit philosophisch-mystischen Wahrheiten, die sehr hoch entwickelt war. Zum Teil entstand daraus Magie und Spielerei, die wohl oft auch zu Betrug und Verbrechen führte. Aber auch die Magie hatte eine edle Herkunft und tiefe Gedanken. So die Lehre von Abraxas, die ich vorhin als Beispiel anführte. Man nennt diesen Namen in Verbindung mit griechischen Zauberformeln und hält ihn vielfach für den Namen irgendeines Zauberteufels, wie ihn etwa wilde Völker heute noch haben. Es scheint aber, daß Abraxas viel mehr bedeutet. Wir können uns den Namen etwa denken als den einer Gottheit, welche die symbolische Aufgabe hatte, das Göttliche und das Teuflische zu vereinigen.«
Der kleine gelehrte Mann sprach fein und eifrig weiter, niemand war sehr aufmerksam, und da der Name nicht mehr vorkam, sank auch meine Aufmerksamkeit bald wieder in mich selbst zurück.
»Das Göttliche und das Teuflische vereinigen«, klang es mir nach. Hier konnte ich anknüpfen. Das war mir von den Gesprächenmit Demian in der allerletzten Zeit unserer Freundschaft her vertraut. Demian hatte damals gesagt, wir hätten wohl einen Gott, den wir verehrten, aber der stelle nur eine willkürlich abgetrennte Hälfte der Welt dar (es war die offizielle, erlaubte »lichte« Welt). Man müsse aber die ganze Welt verehren können, also müsse man entweder einen Gott haben, der auch Teufel sei, oder man müsse neben dem Gottesdienst auch einen Dienst des Teufels einrichten. – Und nun war also Abraxas der Gott, der sowohl Gott wie Teufel war.
Eine Zeitlang suchte ich mit großem Eifer auf der Spur weiter, ohne doch vorwärts zu kommen. Ich stöberte auch eine ganze Bibliothek erfolglos nach dem Abraxas durch. Doch war mein Wesen niemals stark auf diese Art des direkten und bewußten Suchens eingestellt, wobei man zuerst nur Wahrheiten findet, die einem Steine in der Hand bleiben.
Die Gestalt der Beatrice, mit der ich eine gewisse Zeit hindurch so viel und innig beschäftigt war, sank nun allmählich unter, oder vielmehr sie trat langsam von mir hinweg, näherte sich mehr und mehr dem Horizont und wurde schattenhafter, ferner, blasser. Sie genügte der Seele nicht mehr.
Es begann jetzt in dem eigentümlich in mich selbst eingesponnenen Dasein, das ich wie ein Traumwandler führte, eine neue Bildung zu entstehen.
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