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Demian

Demian

Titel: Demian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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ihn mitten in der Straße. Mit Herzklopfen sah ich ihn mir entgegenkommen, aufrecht und elastisch, in einem braunen Gummimantel, einen dünnen Stock am Arme eingehängt. Er kam, ohne seinen gleichmäßigen Schritt zu ändern, bis dicht vor mich hin, nahm den Hut ab und zeigte mir sein altes helles Gesicht mit dem entschlossenen Mund und der eigentümlichen Helligkeit auf der breiten Stirn.
    »Demian!« rief ich.
    Er streckte mir die Hand entgegen.
    »Also da bist du, Sinclair! Ich habe dich erwartet.«
    »Wußtest du, daß ich hier bin?«
    »Ich wußte es nicht gerade, aber ich hoffte es bestimmt. Gesehen habe ich dich erst heute abend, du bist uns ja die ganze Zeit nachgegangen.«
    »Du kanntest mich also gleich?«
    »Natürlich. Du hast dich zwar verändert. Aber du hast ja das Zeichen.«
    »Das Zeichen? Was für ein Zeichen?«
    »Wir nannten es früher das Kainszeichen, wenn du dich noch erinnern kannst. Es ist unser Zeichen. Du hast es immer gehabt, darum bin ich dein Freund geworden. Aber jetzt ist es deutlicher geworden.«
    »Ich wußte es nicht. Oder eigentlich doch. Einmal habe ich ein Bild von dir gemalt, Demian, und war erstaunt, daß es auch mir ähnlich war. War das das Zeichen?«
    »Das war es. Gut, daß du nun da bist! Auch meine Mutter wird sich freuen.«
    Ich erschrak.
    »Deine Mutter? Ist sie hier? Sie kennt mich ja gar nicht.«
    »O, sie weiß von dir. Sie wird dich kennen, auch ohne daß ich ihr sage, wer du bist. – Du hast lange nichts von dir hören lassen.« »O, ich wollte oft schreiben, aber es ging nicht. Seit einiger Zeit habe ich gespürt, daß ich dich bald finden müsse. Ich habe jeden Tag darauf gewartet.«
    Er schob seinen Arm in meinen und ging mit mir weiter. Ruhe ging von ihm aus und zog in mich ein. Wir plauderten bald wie früher. Wir gedachten der Schulzeit, des Konfirmationsunterrichtes, auch jenes unglücklichen Beisammenseins damals in den Ferien – nur von dem frühesten und engsten Bande zwischen uns, von der Geschichte mit Franz Kromer, war auch jetzt nicht die Rede.
    Unversehens waren wir mitten in seltsamen und ahnungsvollen Gesprächen. Wir hatten, an jene Unterhaltung Demians mit dem Japaner anklingend, vom Studentenleben gesprochen und waren von da auf anderes gekommen, das weitab zu liegen schien; doch verband es sich in Demians Worten zu einem innigen Zusammenhang. Er sprach vom Geist Europas und von der Signatur dieser Zeit. Überall, sagte er, herrsche Zusammenschluß und Herdenbildung, aber nirgends Freiheit und Liebe. Alle diese Gemeinsamkeit, von der Studentenverbindung und dem Gesangvereinbis zu den Staaten, sei eine Zwangsbildung, es sei eine Gemeinschaft aus Angst, aus Furcht, aus Verlegenheit, und sie sei im Innern faul und alt und dem Zusammenbruch nahe.
    »Gemeinsamkeit«, sagte Demian, »ist eine schöne Sache. Aber was wir da überall blühen sehen, ist gar keine. Sie wird neu entstehen, aus dem Voneinanderwissen der Einzelnen, und sie wird für eine Weile die Welt umformen. Was jetzt an Gemeinsamkeit da ist, ist nur Herdenbildung. Die Menschen fliehen zueinander, weil sie voreinander Angst haben – die Herren für sich, die Arbeiter für sich, die Gelehrten für sich! Und warum haben sie Angst? Man hat nur Angst, wenn man mit sich selber nicht einig ist. Sie haben Angst, weil sie sich nie zu sich selber bekannt haben. Eine Gemeinschaft von lauter Menschen, die vor dem Unbekannten in sich selber Angst haben! Sie fühlen alle, daß ihre Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie nach alten Tafeln leben, weder ihre Religionen noch ihre Sittlichkeit, nichts von allem ist dem angemessen, was wir brauchen. Hundert und mehr Jahre lang hat Europa bloß noch studiert und Fabriken gebaut! Sie wissen genau, wieviel Gramm Pulver man braucht, um einen Menschen zu töten, aber sie wissen nicht, wie man zu Gott betet, sie wissen nicht einmal, wie man eine Stunde lang vergnügt sein kann. Sieh dir einmal so eine Studentenkneipe an! Oder gar einen Vergnügungsort, wo die reichen Leute hinkommen! Hoffnungslos! – Lieber Sinclair, aus alledem kann nichts Heiteres kommen. Diese Menschen, die sich so ängstlich zusammentun, sind voll von Angst und voll von Bosheit, keiner traut dem andern. Sie hängen an Idealen, die keine mehr sind, und steinigen jeden, der ein neues aufstellt. Ich spüre, daß es Auseinandersetzungen gibt. Sie werden kommen, glaube mir, sie werden bald kommen! Natürlich werden sie die Welt nicht ›verbessern‹. Ob die Arbeiter ihre Fabrikanten

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