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Demian

Demian

Titel: Demian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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totschlagen, oder ob Rußland und Deutschland aufeinander schießen, es werden nur Besitzer getauscht. Aber umsonst wird es doch nicht sein. Es wird die Wertlosigkeit der heutigen Ideale dartun, es wird ein Aufräumen mit steinzeitlichen Göttern geben. Diese Welt, wie sie jetzt ist, will sterben, sie will zugrunde gehen, und sie wird es.«
    »Und was wird dabei aus uns?« fragte ich.
    »Aus uns? O, vielleicht gehen wir mit zugrunde. Totschlagenkann man ja auch unsereinen. Nur daß wir damit nicht erledigt sind. Um das, was von uns bleibt, oder um die von uns, die es überleben, wird der Wille der Zukunft sich sammeln. Der Wille der Menschheit wird sich zeigen, den unser Europa eine Zeitlang mit seinem Jahrmarkt von Technik und Wissenschaft überschrien hat. Und dann wird sich zeigen, daß der Wille der Menschheit nie und nirgends gleich ist mit dem der heutigen Gemeinschaften, der Staaten und Völker, der Vereine und Kirchen. Sondern das, was die Natur mit dem Menschen will, steht in den Einzelnen geschrieben, in dir und mir. Es stand in Jesus, es stand in Nietzsche. Für diese allein wichtigen Strömungen – die natürlich jeden Tag anders aussehen können, wird Raum sein, wenn die heutigen Gemeinschaften zusammenbrechen.«
    Wir machten spät vor einem Garten am Flusse halt.
    »Hier wohnen wir«, sagte Demian. »Komm bald zu uns! Wir erwarten dich sehr.«
    Freudig ging ich durch die kühl gewordene Nacht meinen weiten Heimweg. Da und dort lärmten und schwankten heimkehrende Studenten durch die Stadt. Oft hatte ich den Gegensatz zwischen ihrer komischen Art von Fröhlichkeit und meinem einsamen Leben empfunden, oft mit einem Gefühl von Entbehrung, oft mit Spott. Aber noch nie hatte ich so wie heute mit Ruhe und geheimer Kraft gefühlt, wie wenig mich das anging, wie fern und verschollen diese Welt für mich war. Ich erinnerte mich an Beamte meiner Vaterstadt, alte, würdige Herren, welche an den Erinnerungen ihrer verkneipten Semester hingen wie an Andenken eines seligen Paradieses und mit der entschwundenen »Freiheit«, ihrer Studentenjahre einen Kultus trieben, wie ihn sonst etwa Dichter oder andere Romantiker der Kindheit widmen. Überall dasselbe! Überall suchten sie die »Freiheit«, und das »Glück«, irgendwo hinter sich, aus lauter Angst, sie könnten ihrer eigenen Verantwortlichkeit erinnert und an ihren eigenen Weg gemahnt werden. Ein paar Jahre wurde gesoffen und gejubelt, und dann kroch man unter und wurde ein seriöser Herr im Staatsdienst. Ja, es war faul, faul bei uns, und diese Studentendummheit war weniger dumm und weniger schlimm als hundert andere.
    Als ich jedoch in meiner entlegenen Wohnung angekommen warund mein Bett suchte, waren alle diese Gedanken verflogen, und mein ganzer Sinn hing wartend an dem großen Versprechen, das mir dieser Tag gegeben hatte. Sobald ich wollte, morgen schon, sollte ich Demians Mutter sehen. Mochten die Studenten ihre Kneipen abhalten und sich die Gesichter tätowieren, mochte die Welt faul sein und auf ihren Untergang warten – was ging es mich an! Ich wartete einzig darauf, daß mein Schicksal mir in einem neuen Bilde entgegentrete.
    Ich schlief fest bis spät am Morgen. Der neue Tag brach für mich als ein feierlicher Festtag an, wie ich seit den Weihnachtsfeiern meiner Knabenzeit keinen mehr erlebt hatte. Ich war voll innerster Unruhe, doch ohne jede Angst. Ich fühlte, daß ein wichtiger Tag für mich angebrochen sei, ich sah und empfand die Welt um mich her verwandelt, wartend, beziehungsvoll und feierlich, auch der leise fließende Herbstregen war schön, still und festtäglich voll ernstfroher Musik. Zum erstenmal klang die äußere Welt mit meiner innern rein zusammen – dann ist Feiertag der Seele, dann lohnt es sich zu leben. Kein Haus, kein Schaufenster, kein Gesicht auf der Gasse störte mich, alles war, wie es sein mußte, trug aber nicht das leere Gesicht des Alltäglichen und Gewohnten, sondern war wartende Natur, stand ehrfurchtsvoll dem Schicksal bereit. So hatte ich als kleiner Knabe die Welt am Morgen der großen Feiertage gesehen, am Christtag und an Ostern. Ich hatte nicht gewußt, daß diese Welt noch so schön sein könne. Ich hatte mich daran gewöhnt, in mich hineinzuleben und mich damit abzufinden, daß mir der Sinn für das da draußen eben verlorengegangen sei, daß der Verlust der glänzenden Farben unvermeidlich mit dem Verlust der Kindheit zusammenhänge, und daß man gewissermaßen die Freiheit und Mannheit der Seele mit dem

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