Demian
gewollt
hätte.
Aber wie hätte ich dies wollen können?
59
Der Vogel kämpft sich aus dem Ei
Mein gemalter Traumvogel war unterwegs und suchte meinen Freund. Auf die wunderlichste Weise kam mir eine Antwort.
In meiner Schulklasse, an meinem Platz, fand ich einst nach der Pause
zwischen zwei Lektionen einen Zettel in meinem Buche stecken. Er war genau so gefaltet, wie es bei uns üblich war, wenn Klassengenossen zuweilen während einer Lektion heimlich einander Billetts zukommen ließen. Mich wunderte nur, wer mir solch einen Zettel zuschickte, denn ich stand mit keinem Mitschüler je in solchem Verkehr. Ich dachte, es werde die Aufforderung zu irgendeinem Schülerspaß sein, an dem ich doch nicht teilnehmen würde, und legte den Zettel ungelesen vorn in mein Buch. Erst während der Lektion fiel er mir zufällig wieder in die Hand.
Ich spielte mit dem Papier, entfaltete es gedankenlos und fand einige Worte darein geschrieben. Ich warf einen Blick darauf, blieb an einem Wort hängen, erschrak und las, während mein Herz sich vor Schicksal wie in großer Kälte zusammenzog:
Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren
”
werden will, muß eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas.“
Ich versank nach dem mehrmaligen Lesen dieser Zeilen in tiefes Nachsinnen.
Es war kein Zweifel möglich, es war Antwort von Demian. Niemand konnte
von dem Vogel wissen, als ich und er. Er hatte mein Bild bekommen. Er hatte verstanden und half mir deuten. Aber wie hing alles zusammen? Und – das plagte mich vor allem – was hieß Abraxas? Ich hatte das Wort nie gehört oder gelesen. Der Gott heißt Abraxas!“
”
Die Stunde verging, ohne daß ich etwas vom Unterricht hörte. Die nächste begann, die letzte des Vormittags. Sie wurde von einem jungen Hilfslehrer gegeben, der erst von der Universität kam und uns schon darum gefiel, weil er so jung war und sich uns gegenüber keine falsche Würde anmaßte.
Wir lasen unter Doktor Follens Führung Herodot. Diese Lektüre gehörte zu den wenigen Schulfächern, die mich interessierten. Aber diesmal war ich nicht dabei. Ich hatte mechanisch mein Buch aufgeschlagen, folgte aber dem Ober-setzer nicht und blieb in meine Gedanken versunken. Übrigens hatte ich schon 60
mehrmals die Erfahrung gemacht, wie richtig das war, was Demian mir da-
mals im geistlichen Unterricht gesagt hatte. Was man stark genug wollte, das gelang. Wenn ich während des Unterrichts sehr stark mit eigenen Gedanken beschäftigt war, so konnte ich ruhig sein, daß der Lehrer mich in Ruhe ließ.
ja, wenn man zerstreut war oder schläfrig, dann stand er plötzlich da: das war mir auch schon begegnet. Aber wenn man wirklich dachte, wirklich versunken war, dann war man geschützt. Und auch das mit dem festen Anblicken hatte ich schon probiert und bewährt gefunden. Damals zu Demians Zeiten war es mir nicht geglückt, jetzt spürte ich oft, daß man mit Blicken und Gedanken sehr viel ausrichten konnte.
So saß ich auch jetzt und war weit von Herodot und von der Schule weg.
Aber da schlug unversehens mir die Stimme des Lehrers wie ein Blitz ins Bewußtsein, daß ich voll Schrecken erwachte. Ich hörte seine Stimme, er stand dicht neben mir, ich glaubte schon, er habe meinen Namen gerufen. Aber er sah mich nicht an. Ich atmete auf.
Da hörte ich seine Stimme wieder. Laut sagte sie das Wort: Abraxas.“
”
In einer Erklärung, deren Anfang mir entgangen war, fuhr Doktor Follen
fort: Wir müssen uns die Anschauungen jener Sekten und mystischen Vereini-
”
gungen des Altertums nicht so naiv vorstellen, wie sie vom Standpunkt einer rationalistischen Betrachtung aus erscheinen. Eine Wissenschaft in unserem Sinn kannte das Altertum überhaupt nicht. Dafür gab es eine Beschäftigung mit philosophischmystischen Wahrheiten, die sehr hoch entwickelt war. Zum Teil entstand daraus Magie und Spielerei, die wohl oft auch zu Betrug und Verbrechen führte. Aber auch die Magie hatte eine edle Herkunft und tiefe Gedanken. So die Lehre von Abraxas, die ich vorhin als Beispiel anführte.
Man nennt diesen Namen in Verbindung mit griechischen Zauberformeln und hält ihn vielfach für den Namen irgendeines Zauberteufels, wie ihn etwa wilde Völker heute noch haben. Es scheint aber, daß Abraxas viel mehr bedeutet.
Wir können uns den Namen etwa denken als den einer Gottheit, welche die symbolische Aufgabe hatte, das Göttliche und das Teuflische zu vereinigen.“
Der
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