Demonica - Ione, L: Demonica
»Okay, aber da gibt’s noch eine Sache, die ich nicht verstehe … Gem sagte, ihre Eltern hätten den Dämon in ihr gespürt, als sie geboren wurde, aber nicht in mir. Wenn wir Zwillinge sind, wieso hat sie dann ihre Dämonenhälfte entwickelt und ich nicht?«
»Ich müsste vermutlich mit euch beiden einige Tests durchführen, ehe ich dir darauf eine Antwort geben kann, aber ich schätze, da ihr keine eineiigen Zwillinge seid und euer genetischer Code daher auch nicht identisch ist, habt ihr euch unterschiedlich entwickelt. Ihre DNA ist verschmolzen, deine nicht. Aber das können wir beheben.«
Als sie nicht antwortete, unterbrach Gem das Schweigen. »Du musst dich entscheiden, und zwar schnell. Die Veränderungen, die ich in dir spüre, sind überall. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Taylas Augen verengten sich zu Schlitzen, als ob sie Gems Motive infrage stellte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir traue.«
»Ich traue dir auch nicht«, entgegnete Gem erhitzt. »Und, was bringt uns das?«
»Das bringt euch zu etwas, das man Familie nennt, Mädels«, mischte sich Wraith ein. »Daran müsst ihr euch gewöhnen.«
21
Nachdem sie sich zwei Stunden lang in Eidolons Arbeitszimmer mit Gem unterhalten hatte, entschied Tayla, dass sie ihre neu gefundene Schwester nicht leiden konnte. Es lag nicht daran, dass Gem in einer Villa aufgewachsen war, Privatschulen besucht hatte und ein nach außen hin völlig normales Leben gelebt hatte, obwohl sie von Dämonen aufgezogen worden war. Es lag auch nicht daran, dass Gem klug und gebildet war und das College zwei Jahre früher als üblich besucht hatte, wohingegen Tayla die Highschool abgebrochen und die Hochschulreife nur deshalb später erworben hatte, weil Kynan darauf bestand, dass alle Wächter über eine elementare Bildung verfügten.
Nein, Tayla hasste Gem, weil sie andauernd von «unserer Mutter« sprach, obwohl Gem sie niemals kennengelernt hatte. Sie hatte nicht das Recht, »unsere Mutter« anders als Teresa zu nennen.
»Du hörst mir ja gar nicht zu«, beschwerte sich Gem, als Tayla einen von Eidolons medizinischen Texten aus dem Regal zog und begann, darin zu blättern. Sie konnte nicht ein Wort davon lesen, aber die Illustrationen waren interessant, wenn auch ziemlich eklig.
»Vielleicht kann ich einfach nicht mehr hören, wie viel Glück du hattest.«
»Stimmt, ich hatte Glück. Ich hätte umgebracht werden sollen«, sagte Gem. »Das tut die Spezies meiner Eltern nämlich. Sie spüren Dämonenschwangerschaften auf und sorgen entweder dafür, dass die Jungen niemals geboren werden, oder vernichten sie bei der Geburt, falls sich keine Pflegefamilie findet. Aber meine Eltern waren selbst nicht in der Lage, ein Kind zu bekommen, und ich kam gerade zur rechten Zeit.«
»Und das tust du also im Krankenhaus? Dasselbe wie sie?«
Gem legte ein Bein über die Armlehne von Eidolons Couch, wodurch sich der Schlitz in ihrem kurzen Lederrock öffnete und das Tattoo einer langstieligen Rose auf ihrem Oberschenkel freigab. Von den Dornen tropfte Blut, drei Tropfen zählte Tayla auf dem ganzen Bein, der letzte halb verborgen vom Rand ihres Kampfstiefels. Sie fragte sich, ob Gem noch weitere Tattoos hatte, oder noch mehr Piercings, außer den sechs in ihrem Ohr, dem in ihrer Augenbraue und dem in ihrer Zunge.
»Meistens arbeite ich mit Menschen, aber ich tue mein Bestes, um die Fälle abzufangen, die gelegentlich mal vorkommen – Infektionen nach Dämonenbissen, Krankheiten und Verletzungen bei Menschen mit dämonischer Abstammung, so was alles. Aber es ist auch nicht tragisch, wenn ich mal etwas übersehe. Alles, was einem menschlichen Arzt komisch vorkommt, wird als mysteriöse Krankheit oder Deformität diagnostiziert. Menschen verfügen über eine unglaubliche Fähigkeit, Erklärungen für Dinge zu finden, über die sie die Wahrheit gar nicht wissen wollen.«
Das verstand Tayla. Ihre Mom hatte immer wieder versucht, ihr zu sagen, dass sie von Dämonen gequält wurde, hatte ihr den Seelenschänder sogar beschrieben, aber Tayla hatte ihr nicht geglaubt, hatte lieber gedacht, dass ihre Mutter an von Drogen verursachten Wahnvorstellungen litt. Denn das war damals leichter gewesen, als die Wahrheit zu glauben. Sogar nachdem sie mit angesehen hatte, wie ihre Mutter durch einen Dämon ermordet worden war, war es Tayla nicht eine Sekunde lang in den Sinn gekommen, dass ihre Mutter tatsächlich jahrelang von diesem Seelenschänder gequält worden war.
Gem lümmelte sich
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