Demonica: Versuchung der Nacht (German Edition)
erbärmlich, selbst für seine Verhältnisse.
Die Tür öffnete sich. Als Lore auf die Füße sprang, sah er sich Wraith gegenüber, dessen blondes Haar eine kantige Kieferpartie umspielte. Seine Fänge waren gebleckt, als stieße er ein lautloses Knurren aus. »Was machst du hier?«
»Ich dachte nur, ich seh mal nach ihr. Und warum bist du hier?«
Wraiths Blick fiel auf Lores bloße Hand, und als er wieder nach oben wanderte, verriet das wissende Glitzern in seinen Augen, dass er genau wusste, was gleich geschehen wäre. »Deine Rache wird warten müssen.«
Lore stieß den Atem aus; ein vergeblicher Versuch, zumindest einen Teil der Anspannung loszuwerden. »Warum?«
»Weil«, erwiderte sein Bruder mit vor Wut bebender Stimme, »ich mich in ihren Kopf begeben werde. Ich will wissen, wer Kynan tot sehen will. Und dann werde ich dafür sorgen, dass derjenige sich wünscht, er wäre nie geboren worden.«
4
»Ich brauche deine Hilfe. Bitte, Idess.« Rami, der am Ufer des Nils stand, umfasste seinen Unterarm und krümmte sich.
»Was ist los?« Aber noch während sie sprach, wusste sie es. Zwei seiner vier heraldi leuchteten hell auf. Zwei? Das war mehr als selten – so selten, dass sie noch nie zuvor davon gehört hatte. Schon wenn ein einzelner Primori in Schwierigkeiten steckte, war der Schmerz unerträglich. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sich zwei zur selben Zeit in Gefahr befänden. »Was kann ich tun?«
»Hilf … dem Wikinger.«
»Natürlich.« Sie streifte mit federleichter Hand ein heraldi auf Ramis Arm, und augenblicklich wurde sie mitten in eine Schlacht transportiert.
Der Gestank des Todes war so dicht wie der Nebel um sie herum. Der Boden war von Blut getränkt und mit Körperteilen und Innereien übersät. Die Opfer … o du meine Güte, die Opfer … Frauen. Kinder. Dies war keine Schlacht. Es war ein Gemetzel. Und mittendrin befand sich Ramis Primori und hackte mit einer Axt einen sterbenden Mann in Stücke; ein Wikinger, dessen böse Aura ihn einhüllte wie ein Leichentuch und beinahe das blaue Schimmern auslöschte, das seinen Primori-Status preisgab. Auch wenn Menschen genauso böse sein konnten wie ein Geschöpf der Unterwelt, ließ dieser hier ihre Flügelmale jucken und einen Schauer nach dem anderen über ihren Rücken laufen. In den Adern dieses Primori floss Dämonenblut.
Eine in Lumpen gekleidete Frau kroch auf den Wikinger zu; in ihren Augen brannte reine Mordlust, und in einer Faust hielt sie einen Dolch fest umschlossen. Sie war die Bedrohung für diesen Primori. Sollte die Frau ihn töten, würde sich das Schicksal, das ihm in dieser Welt bestimmt war, nicht erfüllen, sei es nun gut oder schlecht.
Sollte sie ihn töten, würde das einen Minuspunkt in Ramis Akte ergeben, und er wäre gezwungen, es auszugleichen, indem er noch länger an die Erde gebunden blieb.
Was bedeutete, dass er bei Idess bleiben könnte. Vielleicht sogar lange genug, damit sie beide zusammen aufsteigen könnten.
Die Erregung, die Idess bei diesem Gedanken verspürte, verwandelte sich gleich darauf in Scham. Sie wollte doch, dass sich Rami seine Flügel verdiente und ewige Glückseligkeit im Himmel fand. Aber wenn er fort war, würde Idess einsam und traurig auf der Erde zurückbleiben, ohne ihren Bruder, auf den sie sich seit Jahrhunderten verließ.
Die Frau kroch durch das Blut und die Eingeweide. In ihrem Gesicht waren Rache und Schmerz so deutlich zu sehen, als wären sie dort eingraviert, während sie sich mühsam hinter dem Wikinger aufrichtete und ihr Messer hob …
Halt sie auf. Der innere Zwang, ihre Aufgabe zu erledigen, bedrängte Idess, genau wie das Wissen, dass der Primori diese Frau abschlachten würde, wenn sie ihm das Leben rettete – vermutlich, nachdem er sie vergewaltigt und gefoltert hatte. Ein Beben erschütterte Idess’ Seele. Die Hälfte ihrer selbst, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, verlangte Gnade für diese Frau, auch wenn es Idess’ Pflicht wäre, das zu tun, was das Richtige für die Welt war. Und nicht für ein Individuum.
Aber sie hatte die grauenhaften Dinge gesehen, die Männer Frauen antaten. Die Beweise lagen überall um sie herum auf der Erde verstreut.
Idess schloss die Augen.
Und tat nichts.
Die Frau versenkte die Klinge tief in den Rücken des Wikingers. Sein Brüllen voller Wut und Schmerz durchdrang den Nebelschleier und ließ den Kampflärm in der Ferne verstummen. Die Frau stieß noch einmal zu. Diesmal traf sie den Wikinger
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