Den du nicht siehst
waren. Mit Helenas Eltern, den Nachbarn, mit Kollegen aus der Schule. Per Bergdal saß in Visby im Gefängnis, und niemand durfte zu ihm.
Emma hatte sich an Polizei und Staatsanwaltschaft gewandt. Sie hatte gebettelt und gefleht, mit Per sprechen zu dürfen, aber das hatte nichts gebracht. Der Oberstaatsanwalt hatte Per diverse Auflagen gemacht. Er durfte aus ermittlungstechnischen Gründen keinerlei Kontakt zur Außenwelt haben.
Emma war sicher, dass Per unschuldig war. Sie fragte sich, wie sein Leben aussehen würde, wenn das alles vorüber wäre. In der Presse bloßgestellt, und überhaupt. Alle würden ihre Zweifel haben, bis der wirkliche Mörder gefasst wäre. Aber wer konnte das sein? Ihr schauderte bei dem Gedanken. War es jemand, den Helena durch Zufall getroffen hatte? Oder jemand, den sie kannte? Jemand, von dem Emma nichts wusste?
Sie und Helena hatten sich doch immer alles erzählt. Das glaubte Emma zumindest. Oder hatte Helena Geheimnisse vor ihr gehabt? Diese Überlegungen machten ihr zu schaffen. Stimmten sie trotz ihrer Trauer gereizt. Sie hatte sich mit Olle gestritten, weil sie fand, er zeigte zu wenig Verständnis. Sie hatte ihn laut angeschrien und einen Milchkarton so heftig auf den Boden geschleudert, dass die Milch durch die ganze Küche spritzte. Bis zur Decke, wie sie am nächsten Morgen beim Saubermachen festgestellt hatte.
Das alles war einfach ein Albtraum. Vollkommen unwirklich. Sie hob die letzten halb verwelkten Blumentöpfe von der Fensterbank. Die nehme ich mit nach Hause und versuche, sie wieder zum Leben zu erwecken, dachte sie.
Sie schaute auf die Uhr. Fast neun. Jetzt musste sie die Tür des Klassenzimmers öffnen.
Die Kinder begrüßten sie scheu, als sie hereinströmten und sich vor ihre Tische stellten. Sie wussten natürlich, dass die Ermordete die beste Freundin ihrer Lehrerin gewesen war. Emma hieß sie willkommen und war gerührt, als sie sah, wie fein die Kleinen sich gemacht hatten. Sie hatten frisch gewaschene Haare. Trugen helle Kleider und sorgfältig gebügelte Hemden. Glänzende Schuhe und Blumen in den Haaren.
Emma setzte sich ans Klavier.
»Seid ihr jetzt alle so weit?«, fragte sie, und die Kinder nickten. Danach füllten ihre hellen Stimmen das Klassenzimmer. Die Zeit der Blüten bricht nun an sangen sie zu Emmas Klavierbegleitung. Wie sich das für einen Schuljahresabschluss eben gehörte. Während des Liedes, dessen Strophen Emma nach den vielen Jahren an der Schule auswendig konnte, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf.
Sommerferien, ja. Sie selbst verband damit wirklich keine Hoffnung. Im Moment musste sie alle Kraft aufwenden, um durchzuhalten. Um nicht zusammenzubrechen. Sie musste sich um ihre Kinder kümmern. Um Sara und Filip. Die hatten ein Recht auf schöne Sommerferien. Und sie freuten sich schon auf alles, was sie unternehmen würden. Sie wollten zum Baden fahren, Vettern und Kusinen besuchen, einen Ausflug zur Insel Gotska Sandön und vielleicht sogar einen nach Stockholm machen. Aber wie sollte Emma das alles schaffen? Natürlich würde der Schock irgendwann abklingen. Würde die Trauer weniger greifbar sein, aber sie vermisste Helena so sehr, dass es wehtat. Und damit würde sie nicht so schnell fertig werden. Und wie sollte sie verarbeiten, was hier passiert war? Dass ihre allerbeste Freundin auf eine Weise ermordet worden war, die sonst nur in Filmen vorkam.
Das Datum für die Beerdigung war festgelegt worden. Sie sollte in Stockholm stattfinden. Bei dieser Vorstellung stiegen Emma die Tränen in die Augen. Sie wollte nicht daran denken.
Plötzlich fiel ihr auf, dass die Kinder verstummt waren. Wie lange sie nach der letzten Strophe noch weitergespielt hatte, wusste sie nicht.
Johans Zeit auf Gotland neigte sich dem Ende entgegen. Zumindest für dieses Mal. Er hatte mit Grenfors darüber gesprochen, wie lange seine Anwesenheit auf der Insel vonnöten sei. Die Polizei hatte eine Nachrichtensperre über die Ermittlungsarbeiten verhängt. Offenbar gab es keine neuen Spuren oder Anhaltspunkte. Der Lebensgefährte wurde noch immer festgehalten, vermutlich würden sie ihn in Untersuchungshaft stecken. Warum er unter Verdacht stand, war weiterhin unbekannt. Der Mord hatte seinen Nachrichtenwert verloren, tauchte nur noch als Kurzmeldung auf. Heute war Freitag, und übers Wochenende gab es keine Sendungen der Regionalnachrichten. Die Redaktion der landesweiten Nachrichten hatte kein Interesse an einem Reporter vor Ort,
Weitere Kostenlose Bücher