Den du nicht siehst
Auf der anderen gab es nur Hochhäuser, mit voll geschmierten Fassaden und eingeschlagenen Kellerfenstern. Dort wohnten vor allem Drogensüchtige und Arbeitslose. Es waren zwei grundverschiedene Welten, eigentlich total krank. In der Oberstufe wurden Jugendliche aus dem ganzen Vorort in einer Schule zusammengelegt, und das war für mich wirklich ein Schlüsselerlebnis.«
»Wieso das denn?«, fragte Emma.
»Ich fand Kumpels von der Hochhausseite. Mir ging auf, dass nicht alle dieselben Chancen bekommen. Einige von uns gründeten an der Schule eine Zeitung und schrieben Artikel über diese Ungerechtigkeiten. So hat es angefangen. Mit Feuer und Idealismus, und jetzt sitze ich hier als schnöder Kriminalreporter.«
Er lachte und schüttete den Kopf.
»Als ich den Studienplatz für Journalismus bekommen habe, wollte ich schreiben, wie die meisten, nehme ich an. Aber dann bekam ich einen Praktikumsplatz beim Fernsehen, und damit waren die Weichen gestellt. Und du, wieso bist du Lehrerin geworden?«
»Ich war nicht so engagiert wie du, leider. Bei mir war es der klassische Fall: Mein Vater war Lehrer, meine Mutter Lehrerin. Ich glaube, ich wollte vor allem ihnen eine Freude machen. Aber ich bin auch immer gern zur Schule gegangen. Und ich mag Kinder sehr«, sagte sie und der Gedanke an ihre eigenen weckte ihr Schuldbewusstsein. Eigentlich dürfte sie überhaupt nicht in diesem Lokal sitzen.
Johan hatte den Schatten über ihr Gesicht huschen sehen.
»Was denkst du über den neuen Mord?«, fing er nun, um das Thema zu wechseln, doch damit an.
»Das ist der pure Wahnwitz. Wie kann so etwas hier passieren? Auf dem kleinen Gotland? Ich begreife das einfach nicht. Erst Helena, und jetzt sie.«
»Hast du Frida Lindh gekannt?«
»Nein. Sie hat doch erst seit einem Jahr hier gewohnt. Aber ihr Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Sie hat in einem Frisiersalon im Östercentrum gearbeitet. Vielleicht hast du sie dort gesehen?«
»Das kann gut sein. Ich war zweimal mit den Kindern zum Haareschneiden da.«
»Glaubst du, dass Helena sie gekannt haben kann?«
»Keine Ahnung. Ich frage mich, ob es ein Zufall war, dass gerade die zwei ermordet worden sind. Ich habe mir wirklich so viele Gedanken über Helena gemacht. Habe hin und her überlegt. Versucht zu begreifen, was dahinterstecken kann. Wer es getan haben könnte. Ich war zur Beerdigung in Stockholm, und da bin ich ungeheuer vielen Menschen begegnet, die Helena gekannt haben. Ihre Eltern, ihre Geschwister, ihre Bekannten. Pers Eltern waren natürlich auch da. Niemand hat Per auch nur einen Moment für den Mörder gehalten. Danach haben sich alle getroffen, die am letzten Abend bei Helena und Per gewesen sind. Aber uns fällt einfach nichts ein. Wir haben so lange darüber gesprochen. Ich frage mich, ob sie vielleicht einen Mann kennen gelernt hat, von dem niemand etwas wusste? Mit dem sie ein Verhältnis hatte? Und der sich dann als verrückt erwies?«
Sie stocherte mit der Gabel in den Essensresten auf ihrem Teller herum.
»Sie wollte die Beziehung vielleicht abbrechen, weil ihr bewusst geworden war, dass sie Per liebte, und daraufhin wurde dieser andere krankhaft eifersüchtig?«
»Ja«, sagte Johan. »Sicher, das könnte eine Möglichkeit sein. Weißt du, ob sie Per betrogen hat?«
»Ja, das hat sie. Einmal jedenfalls, vor einigen Jahren. Da hatte sie auf einer Party jemanden kennen gelernt. Sie landeten im Bett. Die Sache dauerte einige Wochen. Damals hatte sie Zweifel, was ihre Gefühle für Per anging. Sie wusste nicht mehr so recht, was sie für ihn empfand. Ihre Beziehung war Gewohnheit geworden, fand sie. Helena war total besessen von diesem anderen. Hat nur über ihn geredet, bezeichnete ihn als Droge, von der sie abhängig war. Sie hat sogar einige Male bei der Arbeit blaugemacht, um sich mit ihm treffen zu können. Und das sah ihr überhaupt nicht ähnlich.«
»Kennst du seinen Namen?«
»Nein. Den wollte sie nicht verraten. Ich fand sie nur noch blöd. Sie wollte nicht verraten, wie er hieß, oder was er von Beruf war oder wo er wohnte.«
»Wieso nicht?«
»Keine Ahnung. Natürlich habe ich versucht, es aus ihr herauszubekommen. Aber sie war einfach unmöglich. ›Du wirst es noch früh genug erfahren‹, sagte sie immer.«
»Und was ist dann passiert?«
»Eines Tages hat sie erzählt, dass Schluss sei. Ich weiß nicht, ob etwas Besonderes passiert war, oder was es sonst für einen Grund gehabt haben könnte. Sie sagte nur, es sei zu Ende
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