Den du nicht siehst
miteinander redeten oder dass es beim Essen immer Streit gab, daran hatte er sich gewöhnt. Es galt dann nur, schnell zu fliehen, ohne die Eltern zu verärgern. Früher hatte er es zu Hause nicht ganz so schrecklich gefunden, denn damals hatte er doch immerhin noch seine Freunde gehabt. Mit denen er losziehen und spielen konnte. Aber die hatte er verloren, weshalb er jetzt umso mehr unter der bösen Stimmung zu Hause litt. Er wusste nicht, wohin. Also floh er in sein Zimmer. Zog sich in sich selbst zurück. Las Bücher. Legte große, komplizierte Puzzles, für die er lange brauchte. Machte seine Hausaufgaben sorgfältig. Lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Er kam sich einsam und wertlos vor. Niemand wollte noch etwas mit ihm zu tun haben. Niemand fragte nach ihm. Weder zu Hause noch in der Schule war er erwünscht. Seine Schwester hatte ihre Freundinnen und verbrachte ihre Freizeit vor allem bei den Pferden im Stall. Aber wer wollte schon mit ihm zusammen sein?
Mittlerweile hatte er das Klassenzimmer erreicht. Er hängte seine Jacke und seinen Rucksack an den Haken.
Als es zur ersten Stunde klingelte, erschien ihm das wie eine Befreiung. Aber er wusste, dass sie nur vorübergehend sein würde.
Die Türglocke ertönte, als Karin den Frisiersalon betrat. Die einzige Kundin war eine Frau mittleren Alters, deren Haarsträhnen gerade in Folie verpackt wurden.
In einem Korb auf dem Boden lag in einer Ecke ein kleiner, zottiger Hund, der bei Karins Anblick mit dem Schwanz wedelte.
Die Friseurin trug Rock und Bluse aus naturfarbenem Leinen und hatte braune, schlanke Beine, die in roten Schuhen steckten. Sie drehte sich zur Tür um, als Karin hereinkam. »Hallo«, sagte sie und machte ein fragendes Gesicht. Karin stellte sich vor.
»Ich bin gleich so weit«, sagte sie freundlich. »Bitte setzen Sie sich.« Sie deutete zu einem braunen Sofa hinüber.
Karin nahm Platz und blätterte in einem Modemagazin.
Der Salon war nicht groß. Nur drei Frisiersessel aus schwarzem Leder standen an der einen Wand nebeneinander. Die Kundin schaute neugierig zu Karin hinüber. Die Wände waren hell und leer. Hier wurde mit Dekoration gespart. Spiegel, eine Wanduhr, das war alles. Eigentlich sah es eher aus wie bei einem typischen Herrenfriseur. Streng und ein wenig altmodisch. Nach einigen Minuten waren die Haare der Kundin versorgt. Die Friseurin stülpte ihr eine große Trockenhaube über den Kopf, brachte einen Kaffee und einige Illustrierte und winkte Karin hinter einen Vorhang.
»Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie, nachdem sie sich an einen kleinen Tisch gesetzt hatten.
»Bitte erzählen Sie mir von Frida Lindh.«
»Ja, was soll ich sagen? Sie arbeitete seit einem halben Jahr hier. Es war ein gewisses Risiko, sie einzustellen. Sie kam aus Stockholm, und ich wusste eigentlich nicht viel über sie. Ihre einzige Berufserfahrung bestand aus zwei Jahren Teilzeit in einem Salon in Stockholm, und auch das war schon lange her, da hatte ich ja doch so meine Zweifel. Aber dann erwies sie sich als echter Glückstreffer. Zumindest finanziell. Sie war tüchtig, schnell, fröhlich, kam gut mit der Kundschaft zurecht und war bald sehr beliebt. Sie mietete hier Frisierplätze und war schon nach wenigen Wochen regelmäßig ausgebucht. Sie lockte auch neue Kundschaft an, um die wir anderen uns kümmerten, wenn sie keine Zeit hatte.«
»Wie war denn Ihre persönliche Beziehung zu Frida?«
»Ehrlich gesagt, ich mochte sie nicht. Einfach, weil sie den Männern hier zu sehr um den Bart ging. Deshalb hatte sie auch nur wenige Kundinnen.«
»Warum hat Sie das gestört?«
»Ich bin natürlich froh, wenn meine Mitarbeiterinnen ein gutes Verhältnis zur Kundschaft haben. Aber Frida kannte keine Grenzen. Sie kicherte und plapperte laut mit den Kunden über alles Mögliche, und mir kam das ziemlich oft zu privat vor. Wir müssen uns hier doch mit anhören, was die anderen sagen, und manchmal fand ich die Situation geradezu peinlich. Sie hat einfach alles übertrieben.«
»Inwiefern?«
»Manchmal machten sie und ihr Kunde zum Beispiel Witze mit sexuellen Anspielungen. Ich finde, das gehört sich nicht. Visby ist eine kleine Stadt. Hier kennen sich doch fast alle.«
»Haben Sie mit ihr darüber gesprochen?«
»Ja, und zwar noch vor ungefähr einer Woche. Frida und ein Kunde lachten so sehr, dass sie gar nicht zum Haareschneiden kam. Es war ein Samstag, wir hatten den Salon voller Leute, die Nächsten warteten
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