Den du nicht siehst
wollte ihre Arbeit nicht gerade jetzt unterbrechen, wo sie den oberen Teil des Kruges formte.
Sie reckte sich, um aus dem Fenster zu schauen. Die Gänse waren auf dem Hofplatz zusammengelaufen. Gunillas Blick wanderte von der einen Seite des Hofes zur anderen. Sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Sie konzentrierte sich wieder auf die Arbeit, fest entschlossen, die restlichen zwei Krüge zu vollenden. Sie war zwar eine Träumerin, aber trotzdem war sie immer diszipliniert gewesen.
Die Gänse verstummten, und wieder war nur das rhythmische Surren der Töpferscheibe zu hören. Schließlich war die Form des Kruges fast fertig modelliert.
Plötzlich erstarrte sie. Vor dem Fenster hatte sich etwas bewegt. Wie ein vorüberhuschender Schatten. Oder spielte ihre Einbildung ihr einen Streich? Verunsichert unterbrach sie ihre Arbeit nun doch. Lauschte, wartete, ohne zu wissen, worauf.
Langsam drehte sie sich auf dem Stuhl um. Sie sah sich suchend im Raum um. Die Tür zum Hof stand halb offen. Draußen stolzierte eine Gans vorüber. Das beruhigte sie. Wahrscheinlich war es nur eines der Tiere gewesen.
Sie trat wieder aufs Pedal, und die Scheibe setzte sich in Bewegung.
Als der Boden knarrte, wusste sie, dass jemand im Atelier war. Sie schaute zum Wandspiegel. Hatte sich da etwas bewegt? Wieder unterbrach sie ihre Arbeit und horchte. Ihre Sinne waren aufs Äußerste geschärft. Mechanisch wischte sie sich die Hände an der Schürze ab. Wieder ein Knarren. Da war jemand. Der Gedanke an die beiden Frauenmorde schoss Gunilla durch den Kopf. Sie saß vollkommen still da. Unfähig, sich zu rühren.
Dann erkannte sie im Wandspiegel eine Gestalt.
Grenzenlos erleichtert atmete sie auf.
»Ach, du bist das bloß«, sagte sie. »Ich hab mich richtig erschreckt.«
Lächelnd drehte sie sich um.
»Weißt du, ich hab ein Geräusch gehört, und da muss man doch direkt an diesen Frauenmörder denken.«
Weiter kam sie nicht – die Axt traf ihre Schläfe, und Gunilla kippte schräg nach hinten. Im Fall riss sie den eben geformten Krug mit, der noch warm von ihren Händen war.
Freitag, 22. Juni
Als Gunilla weder am Donnerstagabend noch am Morgen des Johannistages ans Telefon ging, fing Cecilia an, sich Sorgen zu machen. Natürlich war Gunilla ab und zu ziemlich naiv und zerstreut, aber ihre bisherigen Verabredungen hatte sie pünktlich eingehalten. Außerdem war sie Frühaufsteherin und hatte bereits gegen acht aufbrechen wollen. Scherzend hatte sie angedroht, die Freundin aus dem Bett zu schmeißen. Und nun hatte Cecilia ihr Mittsommerfrühstück bereits beendet.
Warum ruft sie nicht an, dachte Cecilia. Gunilla hatte sich bereits gestern Abend melden wollen. Vielleicht hatte sie bis in die Nacht hinein gearbeitet. Cecilia wusste, wie das war. Sie war ja selbst Künstlerin.
Sie war bereits am Vorabend in ihrem Ferienhaus in Katthammarsvik eingetroffen, den Wagen voller Essen und Wein. Sie wollten mittags Hering und Frühkartoffeln essen, abends sollten gegrillte Lachskoteletts an die Reihe kommen. Kein Tanz, kein Fest und vor allem keine anderen Menschen. Nur sie beide. Sie wollten Wein trinken und über Kunst, das Leben und die Liebe diskutieren. In genau dieser Reihenfolge.
Sie hatte einen kleinen Mittsommerbaum vorbereitet, den sie mit Blumen und Birkenlaub schmücken wollten. Sie würden im Freien sitzen, essen und die Ruhe genießen. Die Nachrichten hatten für das Wochenende strahlend schönes Wetter vorhergesagt.
Wo mochte Gunilla sich nur herumtreiben? Es war schon nach elf; auch auf ihrem Mobiltelefon konnte Cecilia sie nicht erreichen.
Warum meldete sie sich nicht? Vielleicht war sie plötzlich krank geworden oder hatte einen Unfall gehabt. Es konnte alles Mögliche passiert sein. Die Gedanken wirbelten Cecilia durch den Kopf, während sie sich mit ihren Vorbereitungen beschäftigte. Um zwölf beschloss sie, zu Gunilla zu fahren.
Gunilla wohnte ein gutes Stück von Katthammarsvik entfernt. Ihr Haus lag abgelegen in der Gemeinde När. Es waren knapp fünfzig Kilometer bis dorthin.
Cecilia setzte sich ins Auto, und ihre Unruhe wuchs.
Als sie auf den Hof fuhr, liefen die Gänse durcheinander und schnatterten hysterisch. Die Tür zur Töpferwerkstatt war angelehnt. Cecilia stieß sie auf und ging hinein.
Als Erstes sah sie das Blut. Auf dem Boden, an den Wänden, auf der Töpferscheibe. Gunilla lag rücklings mitten im Atelier auf dem Boden, die Arme über dem Kopf. Der Schrei blieb Cecilia im Hals
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