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Den ersten Stein

Den ersten Stein

Titel: Den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elliott Hall
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vielleicht etwas Zeit verschaffen.
    Die Frau wandte sich nach rechts. Ich rannte quer über die Parkwiese, um ihr den Weg abzuschneiden, aber sie erreichte die
     Gapstow Bridge vor mir. Ein Gewimmel von Touristen und Liebespaaren verstopfte die ganze Brücke, um dort Schnappschüsse zu
     machen. Die geheimnisvolle Macht, die die Frau in Chinatown umgeben hatte, als sie die Menschenmenge teilte, versagte hier.
     Sie blieb mittendrin stecken, und so viel sie auch schrie und mit den Ellbogen stieß, sie würde das physikalische Gesetz nicht
     ändern, das zwei Körper daran hindert, gleichzeitig am selben Ort zu sein. Ich kam zur Brücke und sprang auf die Mauer, die
     als Geländer diente. Sie war breit genug, dass es nicht verrückt war, darauf zu gehen, es sei denn natürlich, man rannte wie
     ich im Höchsttempo. Ein paar Enten beobachteten meine Fortschritte vom Teich aus, beunruhigt, wo meine gut siebzig Kilo wohl
     landen würden. Ich traf die Frau auf der anderen Brückenseite, als sie sich endlich durch die Menge gekämpft hatte.
    Eine Zeitlang keuchten wir nur und sahen einander an. Die Frau sah nicht so verängstigt aus, wie ich erwartet hatte, schien
     aber bereit, jeden Moment loszuschreien. Ich hielt meine Hände von meinen Taschen fern und versuchte, so wenig bedrohlich
     auszusehen, wie das für einen Fremden, der sie gejagt hatte, nur möglich war. Sie blieb still, was bedeutete, dass sie genauso
     scharf darauf war, die Polizei auf sich aufmerksam zu machen, wie ich.
    »Gute Beinarbeit«, sagte sie schließlich. Ihre Stimme hatte einen hiesigen Akzent und war für meinen Geschmack ein bisschen
     zu nasal. »Ein Wunder, dass Sie nicht in die Brühe gefallen sind.«
    »Der Herr liebt Dummköpfe«, erwiderte ich. »Gehen wir doch ein bisschen spazieren und reden.«
    Sie dache eine Weile über diesen Vorschlag nach, aber die Brücke wurde nicht breiter, und die Menschenmenge hinterihr löste sich nicht auf. »Wir bleiben auf öffentlichen Wegen«, flüsterte sie mir ins Ohr, »oder ich schreie wie am Spieß.«
    »Soll mir recht sein«, flüsterte ich zurück. »Ich tue Ihnen nichts.«
    Sie glaubte mir nicht, ergriff aber trotzdem meinen Arm. Die Leute auf der Brücke, die dachten, wir wären ein Liebespaar,
     das sich versöhnt hat, stimmten Hochrufe an. Wir winkten ihnen zu und spazierten dann Richtung Norden davon, ein Pärchen aus
     einer anderen Zeit.
    Eine Zeitlang sagte sie gar nichts, und ich bedrängte sie nicht. Ich wollte ihr Gelegenheit geben, sich an mich zu gewöhnen.
    »Für wen arbeiten Sie?«, fragte sie.
    Es gehörte zu meinem Job, mir Lügen auszudenken und sie vollkommen glaubwürdig aufzutischen, aber bei dieser Frau fühlte ich
     mich genötigt, die Wahrheit zu sagen. Es lag nicht daran, dass sie ein vertrauenswürdiges Gesicht hatte; ich spürte einfach
     nur, dass sie ein besserer Lügendetektor war als die durchschnittliche Lady. »Ezekiel White.«
    Sie blieb stehen.
    Aus irgendeinem Grund fiel es mir schwer, ihrem enttäuschten, angeekelten Blick zu begegnen, und so sah ich auf die Skater,
     die auf dem Wollman Rink hinter ihr im Kreis fuhren. »Es ist kompliziert.«
    »Was ist daran kompliziert, dass Sie für einen machtgeilen Heuchler arbeiten?«
    »Er hat mir keine Wahl gelassen, und ich tue es nur fürs Geld.«
    »Ehrlichkeit ist eine Tugend, keine Verteidigung«, sagte sie. »Sie sehen nicht wie die Sorte aus, die normalerweise für White
     arbeitet.«
    »Das ist das Netteste, was ich in dieser ganzen Woche gehört habe.«
    »Dann gehe ich, solange ich etwas bei Ihnen gut habe«, gab sie zurück. Sie versuchte, mir ihren Arm zu entziehen, stellte
     aber fest, dass ich ihn in einer liebevollen Umarmung festgeklemmt hatte. »Lassen Sie meinen Arm los, oder jeder Skater auf
     der Bahn wird mich Vergewaltigung schreien hören.«
    Ich ließ sie los, und sie begann, sich von mir zu entfernen.
    »Wollen Sie nicht wissen, wer Bruder Isaiah ermordet hat?« Ich plauderte nicht wirklich aus dem Nähkästchen. Sie hatte schon
     in Chinatown gewusst, dass er tot war, als sie in dem Laternenpfahl nicht das fand, was sie dort gesucht hatte.
    Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Ich weiß, wer ihn ermordet hat.«
    »Wenn das stimmte, stünden sie mit dem
Kreuzzug
vor der Tür des Mörders und würden einen Riesenkrach schlagen.«
    Das brachte sie dazu, sich umzudrehen. »Der
Kreuzzug
weiß überhaupt nicht, dass es mich gibt.«
    Wahrscheinlich fühlte sie sich im Moment sehr einsam,

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