Den ersten Stein
geschleppt hatte, war Iris schon verschwunden. Ich ging zur Tür. Der Schmerz behinderte meinen Gang
auf eine Weise, die weder ein betrunkenes Schwanken noch ein Hinken war.
Bär begegnete mir an der Tür. »Felix, alles in Ordnung mit dir?«
»Alles bestens«, antwortete ich und hielt mich an der Wand fest. »Wo ist Iris?«
»Sie ist gerade eben gegangen, hat noch nicht einmal ihren Mantel mitgenommen. Sie wollte kein Taxi, oder – he, Felix«, sagte
Bär zu meinem Rücken, »der Chef will …«
»Später«, gab ich zurück und trat aus der Tür. Die Straße und alle Gebäude, die sie säumten, waren menschenleer. Das einzige
Geräusch kam von einem Paar hochhackiger Schuhe auf Beton. Ich schlurfte hinter Iris her, auf das Geräusch konzentriert und
mit geschlossenem Mund, falls ich noch einen Krampf bekam. Ich erblickte sie auf dem Weg zur Van BruntStreet. Sie reagierte nicht, als ich ihren Namen rief. Ich schrie ihn lauter.
Iris blieb stehen und drehte sich um. »Sie sind nicht der Mann, für den ich Sie gehalten habe.«
»Es ist nicht mein Job, die Erwartungen anderer zu erfüllen.« Ich hatte eine gewisse Erfahrung mit weiblichem Zorn, der mich
meistens traf, wenn ich Ehefrauen Dinge über ihren Ehemann erzählte, die herauszufinden sie mich engagiert hatten, die sie
aber dann nicht hören wollten. Wenn man es mir übel nahm, dass ich schlechte Nachrichten überbrachte, konnte ich das einfach
abschütteln. Aber der Blick in Iris’ Gesicht war schwerer zu verdauen. »Hören Sie, ich weiß, dass ich nicht gerade Prinz Charming
bin.«
»Sie verstehen verdammt noch mal gar nichts, Sie selbstgefälliges Arschloch«, sagte Iris.
Es war das erste Mal, dass ich sie fluchen hörte. Sie presste die Lippen zu einem schmerzlichen Strich zusammen, der nichts
mit mir zu tun zu haben schien. Ich versuchte mir zu sagen, dass diese Lady von Anfang an nur Ärger bedeutet hatte, dass ich
zunächst einmal gar nicht mit ihr hatte arbeiten wollen. Es half nichts.
»Bruder Isaiah ist der einzige Grund, warum ich nicht mit einer Nadel im Arm gefunden wurde«, sagte Iris. »Als ich acht war,
kam ich in eine Pflegefamilie. Meine Pflegemutter behandelte mich wie einen Geldautomaten und ihr Mann begann an mir herumzufummeln,
als ich zwölf war. Mit vierzehn lief ich weg. Ich lebte auf der Straße und wurde zum Junkie, um die Welt zu vergessen. Ich
habe gestohlen, habe meinen Körper verkauft, alles, um zum nächsten Schuss zu kommen. Sie kennen die Geschichte.«
Ich versuchte, mir Iris als verängstigtes Mädchen vorzustellen, das an einer Straßenecke kauerte, oder als junge Frau, die
Augen von billigem Lidschatten gerändert, die sich jedemAuto zuneigte, das langsamer fuhr. Dieses Bild blieb ebenso wenig haften wie die Vorstellung von ihr als dem keifenden Weib
mit dem Lineal. Geschichten von Bekehrungen betonten normalerweise die schmuddeligen Details, um die Errettung umso wunderbarer
zu machen und den Zuhörern ein Kribbeln zu verschaffen. Ich war froh, dass sie es mir überließ, die Lücken auszufüllen. Falls
die Nadel, die Pfeife und die Nächte mit Kerlen in billigen Hotels irgendwelche Spuren hinterlassen hatten, wollte ich die
nicht sehen.
»Ich verlor ein paar Jahre. Ich saß immer wieder im Jugendknast und später im Gefängnis. Immer, wenn ich entlassen wurde,
nuschelte ein Sozialarbeiter ein paar Worte und schob mich aus der Tür.
Dann lernte ich Bruder Isaiah in der Suppenküche kennen, in der ich gestern Abend ehrenamtlich gearbeitet habe. Damals hat
der
Kreuzzug
sie betrieben, bevor er alle seine Wohltätigkeitseinrichtungen dem Barmherzigkeitsamt übergeben hat. Wir bekamen dort eine
kostenlose Mahlzeit, saubere Nadeln und Kondome. Bruder Isaiah stand wie die anderen Helfer hinter dem Tresen; er war gerne
bei seiner Gemeinde. Er verteilte Kartoffelbrei mit einer Eiscreme-Kelle. Können Sie sich das vorstellen?« Die Erinnerung
zupfte sanft an ihren Mundwinkeln. »Als ich bei der Essensausgabe vor ihm stand, sagte er kein Wort zu mir. Er lächelte einfach
nur. Ich hatte noch nie so viel Güte in einem Gesicht gesehen. Es war wie ein Spiegel. Ich sah mich, wie ich wirklich war,
und es brach mir das Herz. Ich fiel auf die Knie und flehte ihn an, mich zu retten.«
In ihren Augen stand ein Blick, der mich herausforderte, ihr zu widersprechen und ihr Dramatisierung vorzuwerfen. Heutzutage
stolperte man ständig über irgendwelche Bekehrungsgeschichten und
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