Den ersten Stein
im Kern unterschied sich ihre Story nicht von einem Dutzend
anderer. Sie wartete auf meinenWiderspruch, doch ich sagte nichts, nicht aus Taktgefühl, sondern weil ich ihr glaubte.
»Isaiah hat mich an einen Ort gebracht, um clean zu werden. Keine Methadonklinik und kein Beratungszentrum, sondern eine Kirche,
wo ich bleiben konnte. Zwei Jahre lang hat dieser bedeutende Mann mit seiner eigenen Kirche und Radiosendung sich jeden Tag
die Zeit genommen, mit einem Niemand wie mir zu beten. Ich habe ihm all die schrecklichen, entwürdigenden Dinge erzählt, die
ich getan hatte, und er reagierte nie mit Wut oder Abscheu. Er sagte mir, das alles sei in einem anderen Leben geschehen.
Die säkulare Welt hatte immer nur meinen Körper benutzt und mir ins Gesicht gespuckt. Bruder Isaiah war der Mensch, der mir
sagte, dass ich geliebt wurde, dass ich anders sein konnte. Sie wollten wissen, ob Bruder Isaiah jemals jemandem vergeben
hat? Nun, er hat mir vergeben.«
Es tat keinem von uns beiden besonders gut, an der dunklen Straßenecke zu stehen und zu frieren, aber ich wusste ehrlich nicht,
was ich sagen sollte.
»Ich weiß nicht, was ich ohne ihn tun soll«, sagte Iris. »Er hat mir erklärt, dass Jesus über mich wacht, aber es war seine
Hand, die mich auf dem rechten Pfad gehalten hat. Ich kann nicht von vorn anfangen, Felix. Das habe ich schon einmal getan.«
»Sie werden es schaffen«, erwiderte ich. »Sie sind zäher, als Sie aussehen.« Der Schmerz war schlimmer geworden. Ich hatte
Mühe, klar zu denken. Alles verschwamm mir vor den Augen.
Iris fing mich auf, bevor ich aufs Pflaster schlug. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Es ist nichts.« Allmählich sah ich wieder scharf. Ich konnte wieder stehen, wenn ich die Zähne gegen den Schmerz zusammenbiss,
doch Iris nahm ihre Arme nicht weg.
»Störe ich?«, fragte eine Stimme hinter mir.
Sie gehörte einem Mann, den ich lieber nicht kennen würde. »Hallo, Carmine.«
Iris erkannte ihn ebenfalls, aber ihre Aufmerksamkeit galt der Pistole in seiner Hand.
Der zornige kleine Italiener grinste mich an wie ein Smiley. Neben ihm standen zwei Rausschmeißer aus dem Waterfront. »So
ungern ich diesen beschissenschönen Moment auch unterbreche, der Chef will ein Wort mit dir.« Er zeigte mit der Pistole in
der Hand zum Waterfront zurück.
Meine Waffe befand sich noch immer im Schließfach der Bar. Ich nahm die Hände hoch und entwarf im Kopf den bösen Brief, den
ich der Nationalen Schusswaffenvereinigung NRA schicken würde. »Lassen Sie die Lady gehen; das ist eine Sache zwischen ihm
und mir.«
»Keine Chance, Strange«, gab Carmine zurück. »Der Chef will sie ebenfalls sehen.«
Sie führten uns zum Waterfront zurück. Bär sah die Pistole in Carmines Hand und spielte mit dem Gedanken, etwas Dummes zu
tun. Ich schüttelte den Kopf und zwinkerte, um ihm zu sagen, dass die Situation unter Kontrolle war. Bär war nicht beruhigt,
ließ uns aber vorbei.
Carmine hielt mich an der Schwelle zur Hauptbar an und flüsterte mir etwas ins Ohr. Sein Atem stank nach Zwiebeln und Bier
vom Vorabend. »Ich weiß, dass du hier die Biege machen willst, Strange, aber das haut nicht hin. Ich stecke meine Pistole
in die Tasche, und wir geh’n wie die besten Kumpels dort hoch. Wenn du aber irgendeinen Mist machst, wenn du wieder so einen
Trick mit deinen Händen abziehst, hab ich absolut kein Problem, dich vor all diesen Leuten abzuknallen. Hab’n wir uns verstanden?«
Ich nickte.
»Dann nach dir, du Scheißer.«
Wir gingen durch den Hauptraum zur Treppe. Ich hörte Iris hinter mir keuchen und sah, wie ihre Augen auf der Suche nach einem
freundlichen Gesicht durch den Raum schossen. Die Schickimickis und Wochenendkrieger beachteten uns gar nicht, zu sehr waren
sie mit ihren Drinks und einander beschäftigt. Die Angestellten wussten, was los war. Sie gingen uns aus dem Weg, wollten
den lebenden Toten nicht in die Augen sehen.
Er wartete oben in einem der VI P-Zimmer auf uns. Drei Diwane standen an den Wänden, dazwischen war Platz für Champagnergestelle. Die vierte Wand wurde von einem
Fenster eingenommen, das auf die Bar hinunterblickte. Die Scheibe war getönt, damit der Pöbel unten nicht hindurchsehen konnte.
»Ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind«, sagte er zu Iris. »Man nennt mich den Korinther.«
Der Korinther hatte eines dieser sonderbaren, alterslosen Gesichter, die von etwas Teuflischerem als dem normalen
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