Den schnapp ich mir Roman
er nicht der faule Landadlige war, für den sie ihn hielt, war er immer noch ungehörig reich. Sie trank einen Schluck Tee und schwieg. Warum fanden ihn bloß alle so außergewöhnlich?
»Will hat oft Heimweh«, vertraute Henny ihr nun an, weil sie ihren Gesichtsausdruck bemerkte.
»Aber das hier ist doch sein Zuhause, nicht wahr?«
Henny trank einen Schluck Tee. »O ja, und er liebt das Anwesen sehr, aber in den letzten Jahren hat er in Frankreich gelebt und betrachtet das nun als seine Heimat. Meine Mutter war Französin, daher haben wir drei als Kinder oft dort unsere Ferien verbracht. Mit uns dreien meine ich Jack, mich und unseren Bruder Perry, der als Anwalt in Frankreich lebt.« Henny hielt inne und sah versonnen in die Ferne. »Ich sehe Will und Tristan beide noch vor mir, mit einer großen Tasse Schokolade zum Frühstück und
einem knusprigen Croissant. Wenn sie vom Strand kamen, waren alle Taschen immer voller Sand, und die Eimerchen voll von winzigen Krebsen und Seetang.«
Tessa konnte das warme Pain au Chocolat und die salzige Seeluft praktisch riechen. Sie war als Kind oft in Frankreich gewesen und hatte es immer unbeschreiblich genossen. Henny rief in ihr sehr nostalgische Erinnerungen wach. Aber sie hatte keine Zeit, um Erinnerungen über die Familie nachzuhängen, sie wollte Henny nach Rufus aushorchen. Doch die ältere Frau kam jetzt erst richtig in Fahrt.
»Gabrielle, meine Mutter, war eine exotisch schöne Frau – ich sehe ihr leider überhaupt nicht ähnlich, denn ich habe das Aussehen meines Vaters. Als sie noch jung war, ehe sie meinen Vater kennen lernte, hat sie einen schneidigen Franzosen geheiratet, Alain Soundso … er sah unglaublich gut aus, war aber in puncto Frauen nicht vertrauenwürdig.« Henny seufzte. »Er hat sie mehrfach betrogen, und da meine Mutter immer schon ihrer Zeit voraus war, hat sie einfach ihre Sachen gepackt und ihn verlassen. Da er Franzose war, war Alain ungeheuer schockiert, dass sie sich nicht mit seinen Geliebten abfinden wollte. Er hat das nie überwunden. Meine Mutter war sehr unglücklich, aber sie ließ sich von ihm scheiden und verliebte sich in meinen Vater, Jackson senior. Das ist alles sehr lange her, aber es heißt, dass Alain ihr jahrelang nachgetrauert hat. Meine Eltern kamen beide bei einem Verkehrsunfall vor fünf Jahren ums Leben. Alain lebt sicher auch nicht mehr.«
Tessa tätschelte Hennys raue Hand, weil sie die Geschichte irgendwie gerührt hatte. Sie war sehr romantisch. Aber sie hatte ihren Auftrag. Sie blickte zu den Familienfotos an der Wand und erkannte auf einem den lachenden Rufus mit Will und Tristan. Will wirkte darauf sehr jung
und unbeschwert und ganz und gar nicht wie der gestresste Mann, dem sie neulich begegnet war.
»Nettes Foto von Rufus«, bemerkte sie.
»Ja, nicht wahr? Wir haben haufenweise Fotos von ihm. Will und er waren als Jungen unzertrennlich.«
»Wirklich? Könnte ich die irgendwann sehen?« Sie beugte sich verschwörerisch zu Henny. »Tristan hat angedeutet, dass Rufus als Junge ein ziemlicher Schuft war … ziemlich frech – waren nicht jede Menge Mädchen hinter ihm her?«
Henny überlegte. Sie hatte Wills Warnung völlig vergessen. »Ja, eine ganze Menge, glaube ich. Aber mit keiner war es ernst. Nicht so wie bei Tristan. Ich habe keine Ahnung, wie er es überwunden hat. Die Liebe kann einem ganz schön mitspielen, nicht wahr?«, fragte sie mit bebender Stimme. Als sie die Teetasse absetzte, zitterte ihre Hand leicht. »Vermutlich haben Sie von Bobby, meinem Mann, gehört?« Dann zögerte sie, spürte aber das Mitgefühl von Tessa und fuhr fort: »Das mit dem Krebs war schlimm genug, aber ich war anschließend auch ziemlich fertig, weil ich keine Ahnung hatte, wie unvernünftig Bobby unser Geld angelegt hatte. Wir mussten unser geliebtes Haus verkaufen, und die arme Milly gibt mir die Schuld daran.« Ihre Stimme versagte in einem leisen Schluchzer. »Ich verstehe das auch. Sie musste ihre gute Schule verlassen und alle ihre Freundinnen, und das ist in ihrem Alter sehr schlimm. David, mein Sohn, hat sehr gut reagiert, aber er ist ja auch älter, und Jungen passen sich immer leichter an, nicht wahr? Trotz allem vermisse ich Bobby immer noch sehr.«
Tessa sah in Hennys Augen Tränen aufquellen und wurde unruhig. Sie zerrte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und schob es Henny zu. »Milly kommt mir aber sehr ausgeglichen vor, daher machen Sie sich besser keine
Sorgen.« Sie widerstand gerade eben noch dem
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