Den Tod vor Augen - Numbers 2
dem Portemonnaie meiner Mum mitgehen lassen. Jedes Mal einen, damit sie nichts merkt. Ich weiß, dass Dad Bargeld in Seinem Arbeitszimmer hat. Aber ich hatte nicht die Kraft, reinzugehen – es ist Sein Zimmer, es riecht nach Ihm. Selbst wenn ich weiß, Er ist nicht zu Hause und wird auch so schnell nicht zurückkommen, schaff ich es nicht.
Jetzt ist es anders. Morgen werde ich abhauen. Ich nehme alle Bücher aus der Schultasche – ich werde ohne sie klarkommen –, dann falte ich ein bisschen Unterwäsche, meine Lieblings-T-Shirts und ein paar Jogginghosen zusammen. Ich schaue meine Jeans im Schrank an. Ein Paar möchte ich unbedingt mitnehmen – sie sind das, was ich normalerweise trage, aber selbst meine Lieblingsjeans, die ich so oft getragen und gewaschen habe, dass sie ganz weich und dünn sind, bleiben hier. Es hat keinen Sinn, Sachen mitzuschleppen, die ich nicht anziehen kann.
Ich zähle das Geld, das ich versteckt habe: fünfundachtzig Euro, das reicht nicht. Ich weiß, dass Marty und Luke etwas Geld haben. Kann ich meine Brüder beklauen? Ich könnte – wenn sie nicht gerade in ihren Zimmern wären. Ich brauche mehr. Ich muss wohl oder übel an Dads Geld ran.
Er ist unterwegs, um Kunden mit einem Abendessen bei Laune zu halten. Mum schaut im Wohnzimmer fern. Ich gehe an der Tür vorbei und zögere. Es gäbe auch einen anderen Weg, oder? Ich müsste nicht gehen. Ich könnte jetzt zu ihr reingehen, mich neben sie setzen und ihr alles erzählen. Dann müsste sie ja wohl handeln. Die Polizei rufen. Ihn rauswerfen. Oder unsere Sachen zusammenpacken und uns in Sicherheit bringen, mich und die Jungs.
Oder würde sie sagen, ich soll die Klappe halten? Mich auf mein Zimmer schicken, weil ich gewagt habe, solche absurden Lügen zu erzählen? Oder mit den Schultern zucken und sagen, so läuft das eben, so ist Er nun mal?
Mir ist klar, dass sie es weiß. Wie sollte es anders sein? Aber sie weiß nichts von dem Kind. Niemand weiß davon. Und deshalb gehe ich fort. Das Kind ist meins. Er wird es nie zu Gesicht bekommen. Er wird es nie anfassen. Es ist meins, es wächst in mir. Ich werde es vor Ihm schützen.
Ich bin mir nicht sicher, wie weit ich bin. Meine Periode kam schon lange nur noch sehr unregelmäßig, deshalb habe ich nicht gleich gemerkt, als sie völlig ausblieb. Aber alle Sachen sitzen inzwischen so eng, dass ich es nicht mehr lange verbergen kann. Es wird Zeit, zu gehen.
Ich erwarte, dass die Tür zu Seinem Arbeitszimmer abgeschlossen ist, aber nein. Der Griff lässt sich bewegen und die Tür geht problemlos auf. Ich mache einen Schritt ins Zimmer und schon fange ich an zu würgen. Alles im Zimmer zeugt von Ihm: die Golf-Bilder an der Wand, der Mahagoni-Schreibtisch und der dazugehörige Stuhl. Ich drehe fast durch, doch ich zwinge mich, zum Schreibtisch hinüberzugehen. Ich ziehe an den Schubladen. Sie sind alle abgeschlossen. Scheiße! Wahrscheinlich hat Er den Schlüssel bei sich, also war’s das wohl. Wenn ich versuchen würde, die Schlösser aufzubrechen, wüsste Er sofort Bescheid und das Spiel wäre aus.
In Seinem Zimmer gibt es einen Kamin mit einem Sims obendrüber. Er hat dort Familienfotos aufgestellt, strahlend glückliche Gesichter, die perfekte Familie. Die Kamera lügt nie. Oder?
Eines zeigt mich allein, aufgenommen irgendwo im Urlaub. Am Strand in Cornwall. Ich trage einen gestreiften Badeanzug und die blonden Haare fallen mir auf die Schultern. Ich blinzle in die Kamera, weil die Sonne so hell ist. Ich lächle genau in die Linse. Ich habe meinen Dad geliebt. Er war mein Held – ein kräftiger Mann – stark und lustig. Er wusste alles, konnte alles. Und ich war Seine Prinzessin. Auf dem Bild bin ich sieben, als Er anfing, nachts in mein Zimmer zu kommen, war ich zwölf.
Was ist passiert? Wieso hat Er damit angefangen? Wieso konnte das Leben nicht weiter so sein wie auf dem Foto – golden, sonnig, unschuldig?
Ich strecke die Hand aus und nehme das Foto herunter. Es ist lange her, dass ich mich wie das Mädchen auf dem Foto gefühlt habe: Wir könnten verschiedene Menschen sein. Ein paar Sekunden lang schaue ich ihr in die Augen, dann halte ich sie dicht an mich, drücke den Rahmen an meine Brust. Ich möchte sie bemuttern. Ich möchte sie beschützen. Für mich ist es zu spät, denke ich, aber nicht für das Kind in mir. Wir können noch mal von vorn anfangen – wir können so leben, wie das Leben sein sollte.
Vor mir, in Augenhöhe des Kaminsims, liegt der
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