Den Tod vor Augen - Numbers 2
aus«, sagt sie. Sie schaut mich jetzt an, und obwohl sie die Augenbrauen zusammenzieht, hält sie meinen Blick mit ihrem fest, und plötzlich bin ich wieder erfüllt von ihrer Zahl, der Wärme, dem Frieden. Alles ist ich und sie. Nur ich und sie.
Dann tut sie etwas Erstaunliches.
»Ich versteh das nicht«, sagt sie und ihre Stimme ist leise und erregt, als ob sie mit sich selbst spricht, danach streckt sie die Hand über den Tisch und hält ihre Hand vorsichtig an meine rechte Wange. Mein Mund steht plötzlich offen vor Schreck, und als ich ausatme, sammelt sich Spucke im einen Winkel und berührt den Rand ihres Daumens.
»Sarah«, flüstere ich.
Sie schaut tiefer in mich hinein und sie öffnet den Mund, um etwas zu erwidern …, aber da pfeift jemand von hinten aus der Klasse und ihre Hand zuckt zurück. Ich drehe mich um und die ganze Klasse glotzt.
Ich blicke wieder zu Sarah und suche ihre Hilfe, doch sie hat abgeschaltet wie vorher. Sie legt die Stifte zurück in ihr Etui und schnappt sich ihre Tasche, rot vor Wut. Es läutet zum Ende der Stunde und alle kommen in Gang.
»Beendet eure Zeichnung daheim als Hausaufgabe!«, übertönt die Lehrerin den Lärm.
Ich stecke meine Sachen in die Tasche und schiebe scharrend den Stuhl zurück.
»Sarah«, sage ich wieder, doch als ich aufsehe, ist dort nur noch ihr leerer Stuhl. Sie hat ihr Etui und ihr Blatt dagelassen und ist fort.
SARAH
Es gibt 20000 Überwachungsscanner in London, starre Augen, die die Straßen rund um die Uhr beobachten. Sie folgen dir, fotografieren dich, lesen deinen Chip, registrieren dich: wer, wo, wann. Ich hab immer gedacht, es wäre leicht, zu verschwinden, einfach fortzugehen und sich in der Menge zu verlieren, aber erst wenn du es versuchst, stellst du fest, es ist fast unmöglich. Fast.
Ich bin zuversichtlich, als ich am Ende des Tages die Schule verlasse. Ich habe Sachen zum Anziehen, ich habe Geld. Mum und Dad habe ich gesagt, ich würde nach der Schule noch in die Fotogruppe gehen. Sie waren begeistert – endlich ein Zeichen, dass ich mich anpasse. Und ich verschaffe mir auf diese Weise eine Extrastunde Zeit.
Auf schnellstem Wege gehe ich zur Schulbibliothek und zu den öffentlichen Toiletten dort. Ich schließe mich in eine Kabine ein, zieh die Uniform aus und meine eigenen Sachen an. Eigentlich hatte ich vor, die Uniform dazulassen – brauchen werde ich sie nie mehr –, doch im letzten Moment stopfe ich sie in meine Tasche. Ich hab so wenig Klamotten dabei, dass ich sie als Zusatzschicht gut gebrauchen kann. Zwei Minuten später bin ich wieder auf der Straße. Ein Bus kommt. Ich renne zur Haltestelle und steige ein, finde einen Platz ganz hinten, setz mich hin und schau aus dem Fenster.
Es ist mir ziemlich egal, wohin der Bus fährt, Hauptsache, er bringt mich fort, und das schneller, als ich es zu Fuß schaffen würde. Mein Herz pocht, deshalb schließe ich einen Moment die Augen, um mich zu beruhigen. Ich hab es geschafft! Ich bin entkommen! Wir sind entkommen. Noch sind wir nicht in Sicherheit, aber mit jeder Minute, jeder Sekunde entfernen wir uns weiter – von zu Hause, von der Schule, von Ihm , von Adam.
Adam.
Als ich so dicht vor ihm saß, ihn zeichnete, ansah, wirklich hinschaute, war ich mir sicherer denn je, dass er mein Albtraum-Junge war. Aber aus der Nähe ist er nicht besonders angsteinflößend. Er ist eigenartig, ja, er ist nervös, er kann nicht still sitzen und er hat diese merkwürdige Art, dich anzusehen, als ob er in dich hineinschauen würde. Aber statt dass es mich wahnsinnig machte, wollte ich zurückschauen.
In meinem Albtraum habe ich Angst. Dort, inmitten der Flammen, nimmt er mir das Kostbarste, mein Baby, nimmt es mir aus den Armen und geht mit ihm ins Feuer. Aber Albtraum-Adams Gesicht ist vernarbt, die eine Seite ist ganz entstellt und hässlich. Der Adam in der Schule hat wunderschöne Haut – glatt und warm und cappuccinofarben. Als ich seine Haut berührte, als ich die Hand ausstreckte und sein Gesicht berührte, fühlte es sich genauso an, wie es aussah. Perfekt. Er hat das perfekte Gesicht und einen verrückten Moment lang stelle ich mir mein Gesicht dicht an seinem vor, wie seine Augen in meine schauen, seine Lippen meine streifen …
Der Bus rumpelt und ich öffne die Augen. Ich sehe direkt in einen Scanner an der Decke. Scheiße! Natürlich! Alle Busse haben Scanner. Ich muss raus. Sofort. Ich drücke das Haltesignal, gehe nach vorn und steh an der Tür. Mach schon! Mach
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