Den Tod vor Augen - Numbers 2
sagen?
SARAH
Sie hört nicht wieder auf zu schreien. Sie hört überhaupt nicht mehr auf.
Es fängt an wie aus heiterem Himmel. Eines Abends beginnt sie ganz einfach zu weinen. Füttern hilft nichts. Windeln wechseln nützt nichts. Ich nehme sie hoch, halte sie an meine Schulter und gehe rückwärts und vorwärts im Zimmer auf und ab. Nach endlosen Stunden, wie mir scheint, schläft sie vor lauter Erschöpfung ein.
Ich lege sie in die Schublade, die ich als Bettchen benutze, und lasse mich auf meine Matratze fallen. Das Schreien klingt mir noch in den Ohren, prallt in einem nicht enden wollenden Echo von den Wänden zurück. Ich rolle mich zusammen und lege die Hände über die Ohren, um es zum Schweigen zu bringen. Ich nehme an, dass ich ruck, zuck eingeschlafen bin, aber ich weiß nicht, für wie lange. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ihr Schreien bis in meine Träume reicht und mich wieder aus dem Schlaf reißt. Automatisch fasse ich nach ihr. Ihre Haut ist glühend heiß und klebrig vor Schweiß.
Ich versuche, was ich kenne: sie zu füttern, die Windeln zu wechseln, zu singen, umherzugehen. Doch sie schreit und schreit und schreit.
Vinny klopft an die Tür und kommt rein.
»Alles in Ordnung mit euch? Ich hab gesehen, dass Licht brennt. Na ja, ich hab euch gehört. Hab ein bisschen Tee gemacht.«
»Wie spät ist es?«
»Gegen fünf.«
»Morgens?«
»Ja.«
»Ich kann sie nicht mehr beruhigen, Vin. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll, damit sie aufhört.« Meine Stimme klingt hoch und zittrig.
»Gib sie mir. Ich nehme sie eine Weile, damit du deinen Tee trinken kannst. Mal sehen, was wir tun können.«
Er nimmt sie mir ab.
»Mensch, Sarah, die kocht ja.«
»Ich weiß. Was soll ich denn machen, Vin? Was soll ich tun?«
»Besser, wir bringen sie in die Ambulanz im Krankenhaus.«
»Geht nicht. Die wollen doch einen Ausweis, eine Adresse und alles.«
»Wir müssen sie aber irgendwo hinbringen. Wir können sie nicht einfach sich selbst überlassen. Tu so, als hättest du deinen Ausweis vergessen, gib einen falschen Namen an. Das klappt schon. Die schauen sie sich ein Mal an und behandeln sie sofort – sie ist winzig, sie braucht Hilfe, das sehen die doch auf Anhieb. Komm schon. Zieh dir was an. Ich such so lange die Autoschlüssel.«
Es gibt keinen Kindersitz für Mia, deshalb setz ich mich nach hinten und kuschel sie an mich.
»Fahr langsam«, sage ich.
»Natürlich.«
Das Krankenhaus ist ein strahlender, weißer Ort. Ich habe seit Wochen kaum noch das Haus verlassen. Es ist überwältigend, dort zu sein. Alles wirkt so emsig, so groß, so sauber. Ich schaue an mir hinab – auf das fleckige Sweatshirt, das ich über mein T-Shirt gezogen habe, dazu die Jogginghose. Ohne Socken, nur Schlappen an den Füßen. Ich sehe aus, als ob ich im Freien übernachtet hätte.
»Name?«
»Sally Harrison.«
»Ausweis bitte.«
»O Gott, den hab ich zu Hause gelassen. Wir waren so in Eile …«
Die Frau am Empfang sieht mich an und hebt eine Augenbraue.
»Sie tragen auch keinen Chip?«
»Nein.«
»Und das Baby?«
»Nein.«
Ohne Ausweis können sie die Behandlung verweigern. Ich seh die Frau an und frage mich, für welche Seite sie sich entscheiden wird.
»Bitte«, sage ich.
Die Augenbrauen schießen noch weiter hoch, aber dann seufzt sie bloß und fragt meine Daten ab. Ich gebe ihr eine falsche Adresse und Telefonnummer und erzähle ihr alles über Mias Symptome, was ich weiß.
Wir müssen nur zwanzig Minuten warten, dann bringt uns eine Schwester in ein Untersuchungszimmer. Eine Ärztin kommt dazu – sie ist jung, doch sie hat dunkle Ringe unter den Augen und ihre blonden Haare lösen sich aus einem unordentlichen Pferdeschwanz.
»Dann wollen wir sie uns mal anschauen.«
Sie legen sie auf eine weiße Matratze in einer Plastikwanne, die aussieht wie ein Fischtank, danach ziehen sie ihr die Sachen aus.
»Wie lange hat sie schon Fieber?«
»Ungefähr zwölf Stunden. Seitdem hat sie ununterbrochen geschrien.«
»Das Füttern klappt?«
»Nicht, seit sie angefangen hat zu schreien.«
Sie schauen jeden Zentimeter von ihr an, untersuchen Augen, Ohren, Mund, bewegen vorsichtig Arme und Beine.
»Sie hat eine leichte Infektion um den Nabelstumpf. Sehen Sie, wie rot und geschwollen es hier ist?«
Als die Ärztin darauf zeigt, ist es deutlich sichtbar. Die Bauchhaut, da wo die Reste der Nabelschnur sind, wirkt aufgebläht und entzündet. Wieso hab ich das nicht gesehen? Was bin ich bloß
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