Den Tod vor Augen - Numbers 2
höllisch, wenn sie anfängt zu saugen, aber nach ein paar Sekunden lässt der Schmerz nach und die Milch wirkt Wunder – bei mir und bei ihr. Sie wird völlig betrunken davon, warm und benebelt und glücklich. Ihr ganzer Körper entspannt sich, die Arme hängen friedlich herab und alles, was sich bewegt, ist ihr Ohr, das im Rhythmus ihres Kiefers hin- und herwackelt – saug, saug, saug, Pause … saug, saug, saug, Pause. Und ich werde hinabgezogen an einen Ort, wo es nur sie und mich gibt, nichts sonst, nur eine weiche, warme, milchige Welt.
Ich wusste nicht, dass es so sein würde. Wie hätte ich es auch wissen sollen? Dass man jemanden vom ersten Moment an so ganz und gar lieben kann.
Denn das tue ich. Ich liebe sie. Sie war ein Teil von mir, jetzt ist sie für sich – ein eigenständiger Mensch, und ich liebe sie. Ich habe mein Leben gehasst. Ich habe gehasst, ich zu sein. Doch das ist jetzt vorbei, meine Vergangenheit ist vorbei, alles – warum ich hergekommen bin, wer ich war. Ich wollte ein neues Ich, jetzt hab ich ein neues. Ich bin Mias Mum.
ADAM
Ich komme mir vor wie ein Schneemann, der in der Sonne steht. Die ganze rechte Gesichtshälfte hat sich aufgelöst. Ich habe meine Kontur verloren. Als ich mich zum ersten Mal im Spiegel sehe, weine ich nicht, sondern starre und starre nur und versuche, mich in dem Gesicht wiederzufinden. Ich schaue weg, schaue hin, hoffe, dass es anders sein wird, wenn ich wieder hinschaue, hoffe, dass irgendein Wunder geschehen ist und ich wieder »normal« bin.
Doch es geschieht kein Wunder. Ich bin durch das Feuer von Narben bedeckt. Werde es immer bleiben.
Die Polizei kommt vorbei, stellt alle möglichen Fragen, aber ich werde nicht reden. Ich schließe die Augen. Halte weiter den Mund. Und sie gehen. Ich halte auch den Vorhang um mein Bett geschlossen. Ich will niemanden sehen und will auch nicht, dass mich einer sieht. Wenn die Schwestern hereinkommen, sehe ich sie nicht an. Ich will im Moment wirklich keine Zahlen von jemandem sehen. Ein paar Wochen lang funktioniert das, doch eines Tages zieht die Schwester den Vorhang nicht richtig zu und plötzlich beobachtet mich der Junge von nebenan durch die Lücke, als ich mir gerade den Spiegel vors Gesicht halte. Er ist jünger als ich, ungefähr elf, ein blasser kleiner Junge ohne Haare. Ich erinnere mich, was sein Aussehen bedeutet. Er bekommt eine Chemo, so wie Mum damals.
Ich erwische ihn beim Gucken, doch anstatt verlegen zu sein und wegzuschauen, halten seine Augen mich fest und er fragt: »Was ist mit dir passiert?«
Ich will nicht mit ihm reden. Ich will mit niemandem reden, aber vor allem nicht mit einem Achtundzwanziger. Denn das ist er. Er ist hier drinnen, vollgedröhnt von der Chemo, obwohl mir seine Zahl sagt, dass er in ein paar Wochen ohnehin wie all die andern ausgelöscht wird. Ich tu so, als hätte ich ihn nicht gehört, aber er wiederholt seine Frage einfach etwas lauter.
»Was ist passiert? Sieht nach Verbrennung aus.« Er gibt nicht auf.
»Bin in ein Feuer gefallen«, antworte ich schließlich. So. Jetzt hab ich’s dir gesagt. Und nun halt die Klappe und lass mich in Ruhe. Er nickt.
»Ich bin Wesley«, sagt er. »Krebs, wie Jake da drüben, aber der hat Nierenkrebs, bei mir ist es Leukämie. Im Blut.«
Als ich nichts sage, versteht er das irgendwie als Einladung, und eh ich mich versehe, schlägt er die Bettdecke zurück, gleitet aus dem Bett, schiebt meinen Vorhang zur Seite und lässt sich auf meiner Matratze nieder.
»Das ist Carl«, sagt er leise und nickt mit dem Kopf zu einem Jungen, der beide Beine im Gips hat und mit angehobenen Füßen im Bett gegenüber liegt. »Autounfall«, flüstert Wesley. »Hat seinen Vater und seinen Bruder verloren.«
»Scheiße«, sage ich.
»Ja.« Carl blickt in unsere Richtung, sieht uns aber nicht wirklich. Seine Augen sind ganz glasig, trotzdem erkenne ich seine Zahl. Er stirbt morgen.
»Der ist krank, Mann. Schwer krank«, flüstere ich Wesley zu.
»Nein«, antwortet er. »Er sieht zwar schlimm aus, doch es geht ihm schon viel besser. Jetzt sind es nur noch die Brüche in den Beinen. Der Rest ist wieder okay.« Wesley hat offenbar die Ärzte belauscht, aber sie irren sich. Die Zahlen stimmen. Sie lügen nicht. Ich muss es ja wissen.
Oma kommt mich am Nachmittag besuchen.
»Du musst mich hier rausholen, Oma.«
»Kriegst du ein bisschen den Krankenhauskoller? Kein Wunder.« Sie hat mir eine Tüte Pfefferminzbonbons mitgebracht und kaut eins
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