Den Tod vor Augen - Numbers 2
an, fordert mich auf, mich zu erinnern. Ich schaue in ihre Augen, sie führen mich tiefer in mich selbst.
»Denk nach, Sarah, denk nach. Schließ die Augen. Was siehst du?«
ADAM
Es gibt keine Möglichkeit, hier rauszukommen. Du kannst weder durchs Fenster noch durch die Tür entkommen. Die einzige Möglichkeit wird sich bei der Überführung bieten.
Als sie mich herbrachten, lagen meine Hände in Handschellen vor mir auf dem Schoß und ich saß mit etlichen andern in einem Lieferwagen. Es ist schwierig, in Handschellen einen Wärter niederzuschlagen und zu fliehen. Würden die andern mitmachen? Der beste Moment wäre wahrscheinlich, wenn sie mich hier rausführen, und zwar bevor sie mich in den Wagen einschließen. Ich laufe in der Zelle umher und denke an meine Ellenbogen, Knie und Füße – und was ich mit ihnen anrichten könnte. Ich muss es tun. Wenn ich erst in Sydenham bin, sitze ich fest. Dann werde ich den Neujahrstag hinter Schloss und Riegel verbringen. Das kann ich nicht zulassen – ich als wehrloses Opfer, eingesperrt in eine Zelle. Jemand, der nicht sieht, nicht hört, nicht weiß, was draußen geschieht. Vielleicht von den Mauern begraben. Meine letzte Ruhestätte ein beschissenes Gefängnis. Das wird nicht passieren. Das lass ich nicht zu.
Als sie mich verhafteten, haben sie mir meine Uhr und meinen Gürtel abgenommen, deshalb weiß ich nicht, wie lange es noch dauert, bis sie mich abholen. Es müssen aber zehn oder zwölf Stunden vergangen sein, denn sie haben mir zweimal Essen gebracht, wenn man das Zeug, das es gab, so bezeichnen kann, und das kleine Fensterrechteck in meiner Zelle ist schon vor längerer Zeit dunkel geworden.
Es kommt aber nicht so, wie ich es erwartet habe. Diesmal bin ich mit der Handschelle an den Wärter gefesselt. Er ist ein feistes Arschloch, ungefähr zehn Jahre älter als ich, mit einem schmierigen Oberlippenbart. Mit je einem weiteren Wärter vor und hinter uns gelangen wir in den Hof, und ehe ich mich versehe, sind wir in den Lieferwagen gesperrt. Der Motor springt an und weg sind wir.
Scheiße, Scheiße, Scheiße. Ich habe die Chance verpasst. Verdammt, was soll ich jetzt machen?
»Wie spät ist es, Kumpel?«, frage ich.
»Viertel vor zwölf.«
»Scheiße!«
»Wo ist das Problem? Verpasst du ’ne Party? Geht dir genauso wie mir. Scheiß Silvesternacht. Sie haben uns jeglichen Urlaub gestrichen.«
»Wieso das?«
»Wo warst du denn in der letzten Zeit? In einer schalldichten Box? Die ganze Stadt spielt verrückt. Die Leute verstopfen die Straßen, versuchen zu fliehen, und die andern, die bleiben, feiern Silvester, als ob Millennium wäre. Auf dem Trafalgar Square haben sie extra ein Feldlazarett aufgebaut, um mit den Betrunkenen fertig zu werden. Verdammt, die Leute in dieser Stadt sind echt krank.«
»Hätt ich ja glatt Bock, dabei zu sein. Ehrlich, Kumpel, ich muss hier raus.«
Er sieht mich argwöhnisch an und ich erkenne seine Zahl. 1. Januar. Ich bin an einen Menschen gefesselt, der in den nächsten vierundzwanzig Stunden stirbt. Doch ich spüre sonst nichts von seiner Zahl, es gibt nur Schwarz, Leere, sonst nichts. Sehr merkwürdig.
»Fang bloß nicht so an«, sagt er.
»Es ist wichtig. Ich muss zu meiner Familie.«
Er schüttelt den Kopf.
»Nicht heute Nacht, Kumpel. Du gehst nach Sydenham, basta. Wir sind jetzt über dem Fluss, das heißt, in maximal fünfzehn Minuten sind wir da. Keine Chance, aus diesem Van rauszukommen.«
»Sie halten nie an?«
»Nie. Keine Zigarettenpause. Keine Ruhepause.«
»Was ist, wenn ich zuschlage?«
Er schnaubt.
»Erstens würde ich so hart zurückschlagen, dass du nicht weißt, wo oben und unten ist. Bin nämlich gut trainiert, verstehst du? Zweitens ist da oben eine Kamera. Die Typen vorn sehen alles, was hier drinnen passiert. Wenn du aus dem Ruder läufst, machen sie die Sirene an, drücken das Gaspedal durch und wir fahren zur nächsten Polizeiwache, wo du dir die Abreibung deines Lebens abholen kannst.« Aber dazu müssten sie erst die Türen öffnen, stimmt’s? »Lohnt echt nicht, wirklich, Kumpel. Macht alles nur schlimmer und …«
Ich balle meine Hand so energisch zur Faust, wie ich nur kann, duck mich von ihm weg und donnere sie ihm voll gegen die Schläfe.
Er taumelt zur Seite, dann fasst er in seinen Gürtel und zieht einen Schlagstock hervor.
»Verdammter Idiot«, schreit er. Er holt aus und schwingt den Stock in meine Richtung, doch ich krabbel auf die Füße und tret ihm mit der Hacke
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