Denen man nicht vergibt
Wohnung, nötigte ihr ein paar Aspirintabletten auf und drückte sie in den nächstbesten Sessel, während sie im Kamin Feuer machte.
»Was ist passiert, meine Liebe?«
Das Sprechen fiel ihr unglaublich schwer, ihr Mund war zu trocken, um etwas herauszubringen. Schließlich ächzte sie: »Jemand - jemand hat versucht, mich zu überfahren.«
Mrs. Kranz tätschelte ihren Arm. »Sie sind doch hoffentlich nicht verletzt, oder?« Nick schüttelte den Kopf, sprechen konnte sie nicht. Mrs. Kranz sagte: »Wahrscheinlich irgend so ein Betrunkener, nicht?«
Aber Nick schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich weiß wirklich nicht.« Ein Betrunkener? Nein, sie hatte ganz genau gespürt, dass dieser Jemand es auf sie abgesehen hatte. Dass er sie schwer verletzen, möglicherweise sogar umbringen wollte. Oder war das verrückt? Wahrscheinlich, aber das änderte nichts an ihrem Gefühl. Ein Betrunkener. Vielleicht stimmte das ja. Verdammt.
Sie bedankte sich bei Mrs. Kranz, verschob das mit den Prüfungskorrekturen auf unbestimmte Zeit und ging sofort ins Bett. Ihr war kalt bis auf die Knochen.
Als sie endlich einschlief, wurde sie von wilden Albträumen geplagt. Wieder und wieder kam dieses große schwarze Auto auf sie zu, von allen Seiten gleichzeitig. In jedem dieser Autos saß ein Mann mit einer Skimaske. In all diesen Augen, in all diesen Gesichtern, stand der Irrsinn. Aber sie kannte keines dieser Gesichter. Es waren so viele, sie wusste gar nicht, wo hinschauen. Alles drehte sich um sie, von überallher kamen die Autos. Schreiend und schweißgebadet wachte sie auf. Während sie im schwachen Licht der beginnenden Dämmerung dasaß, sah sie immer noch diese Augen vor sich, diese irren Augen, die ihr irgendwie bekannt vorkamen. Als sie wieder einigermaßen ruhig atmen konnte, stand sie auf, schleppte sich ins Bad und beugte sich unter den Wasserhahn, um zu trinken. Das ergab alles keinen Sinn. Wer sollte ihr etwas antun? Sie wüsste keinen. Außer vielleicht einer von den ganz alten, verknöcherten Professoren an ihrer Uni, die der Meinung waren, eine Frau könne nichts von Geschichte verstehen, geschweige denn, an der Universität lehren. Die Hüfte tat höllisch weh, sie konnte kaum auftreten mit dem Bein. Sie nahm noch drei Aspirin und kroch wieder ins Bett.
Es gelang ihr, noch eine Stunde zu schlafen, dann wachte sie vollkommen zerschlagen auf. Die Hüfte schmerzte immer noch höllisch. Sie nahm noch ein paar Aspirin, schaute in den Spiegel und bekam einen Schock. Sie sah leichenblass aus, richtig krank, als hätte sie einen schweren Unfall gehabt. Nur ein Betrunkener, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Es musste so sein. Sie schlüpfte aus ihrem Schlafanzug und begutachtete den riesigen Bluterguss auf ihrer rechten Hüfte. Sie wünschte, sie hätte etwas Stärkeres als nur Aspirintabletten im Haus. Dann ging sie unter die Dusche. Zehn Minuten später fühlte sie sich schon ein bisschen menschlicher. Es musste ein Betrunkener gewesen sein, kein alter verknöcherter Professor oder irgendein verrückter Teenager, der ihr aus Jux einen Schreck einjagen wollte. Nein, ein Betrunkener, der nicht mehr wusste, was er tat, ganz einfach.
Diese Augen, diese irren Augen, waren nichts weiter als ein böser Traum, eine Reaktion auf das Geschehene.
Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, die Sache anzuzeigen. Wozu auch? Sie hatte das Nummernschild nicht gesehen, also konnte die Polizei sowieso nichts tun. Sie erzählte John alles, und er nahm sie in die Arme und streichelte ihr übers Haar. Er sagte dasselbe wie Mrs. Kranz. »Irgendein blöder Betrunkener, das ist alles. Ist schon gut, Nicola. Es ist alles gut, du bist in Sicherheit.«
Nach dieser Nacht schlief sie nicht mehr gut, jedenfalls nicht, bevor sie in San Francisco ankam, bevor sie auf dem schmalen, harten Bett im Gemeinschaftsschlafsaal im ersten Stock der Obdachlosenunterkunft in San Francisco nächtigte.
San Francisco
Am Mittwochabend, nachdem sie endlos lange versucht hatten, irgendeine Verbindung zwischen dem Mord an dem Schwulenaktivisten, der alten Frau und seinem Bruder herzustellen - ohne Ergebnis -, wurde Dane klar, dass er gar keine Wahl hatte, als Nick zur Totenwache für seinen Bruder mitzunehmen. Sie war fast den ganzen Tag über bei ihm gewesen, hauptsächlich deshalb, weil er befürchtete, dass sie nicht den ganzen Tag in seinem Hotelzimmer bleiben würde. Sie war meist schweigsam dagesessen, und als sie zum Mittagessen in ein Fastfood-Lokal am
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