Denen man nicht vergibt
vor und gab Michael einen Kuss auf die Stirn.
Dane spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Er nickte Delion zu und wandte sich abrupt ab. Da merkte er, dass Nick immer noch seine Hand hielt. »Ich kann nicht mehr länger«, sagte er rau, und sie verstand. Langsam drängten sie sich durch die Gruppen schwarz gekleideter Priester zum Ausgang der Kapelle.
Chicago
Nick hatte die Augen weit aufgerissen, sie wusste genau, dass sie offen waren, aber sie konnte nichts sehen. Nein, Moment mal. Sie war in einem stockfinsteren Zimmer, fast stockfinster jedenfalls. Die Dunkelheit war beinahe greifbar wie eine schwere Decke, die ihr die Luft abdrückte. Sie lag auf dem Rücken und starrte nach oben. Sie fragte sich, was los war, und hoffte, dass sie nicht tot war.
Sie hatte einen sauren Geschmack im Mund, ein widerlicher Geschmack, weshalb sie sich beinah übergeben musste, doch sie wusste, wenn sie sich jetzt erbrach, würde sie ersticken. Nun, wenigstens war sie am Leben.
Da war etwas in ihrem Mund, in ihrem Hals. Auf einmal fiel ihr alles wieder ein.
Es war ein schöner Dezemberabend gewesen, wenige Tage vor Weihnachten, nicht zu kalt und auch nicht zu windig. Und geschneit hatte es seit drei Tagen nicht mehr. Eine perfekte Feier, perfekt organisiert, natürlich perfekt, da Johns Privatassistent dafür gesorgt hatte. Albias Geburtstagsfeier fand in Johns luxuriöser Penthousewohnung in der Rushton Avenue, mit Blick auf den Lake Michigan, statt. Sie waren nicht nur zu dritt, nein, auch Elliott Benson war gekommen, ein Mann, dem sie misstraute und den sie nicht leiden konnte. Er war reich und charmant, angeblich ein Freund von John, ein alter Freund aus gemeinsamen Studientagen, wie man ihr erzählt hatte, doch Nick konnte ihn kaum ertragen. Nach jeder Begegnung mit dem Mann verspürte sie erst einmal das Bedürfnis, eine gründliche Dusche zu nehmen. Ihr wäre es am liebsten gewesen, wenn sie nur zu dritt gewesen wären, ohne irgendwelche Mitarbeiter oder wichtige Leute, die Johns Karriere auf die eine oder andere Weise dienlich sein konnten, aber Albia hatte gewollt, dass er kam.
Albia war Johns ältere Schwester, eine elegante, gebildete Frau, die es mit ihrer Kette von Herrenboutiquen selbst zu ansehnlichem Wohlstand gebracht hatte. Albia kümmerte sich um John, seit ihre Mutter gestorben war. Er war damals sechzehn, sie dreiundzwanzig gewesen. Albia wurde jetzt fünfundfünfzig, sah aber mindestens zwölf Jahre jünger aus. Sie hatte mit dreißig geheiratet, war aber ein Jahr später schon Witwe geworden. Im Umgang mit den neuen Wahlhelfern war sie reserviert, ja fast ablehnend, aber seit John begonnen hatte, Nick zu hofieren, war sie mehr und mehr aufgetaut. Nick mochte sie inzwischen sehr und war ihr fast so etwas wie eine Vertraute geworden.
Der heutige Abend war aufregend, glänzend, ein prachtvolles Mahl, ein atemberaubendes Diamantarmband, das John seiner Schwester geschenkt hatte und das nun im Schein der zahlreichen Tischkerzen an Albias Handgelenk glitzerte und funkelte. Elliott Benson überschlug sich geradezu vor Komplimenten für das werte Geburtstagskind und triefte überhaupt vor Charme. Er selbst hatte Albia Diamantohrringe geschenkt, die das Armband zwar nicht in den Schatten stellten, es aber sehr wohl damit aufnehmen konnten. Ja, die Ohrringe, die an Albias Ohrläppchen funkelten, waren wirklich fantastisch. Es war klar, was Elliott damit bezweckte: Er wollte John ausstechen, zumindest Nick war das sonnenklar. Wieso wollte Albia ihn unbedingt dabeihaben?
Nicks Geschenk an Albia war ein Seidenschal mit dem aufgedruckten Motiv eines Picassobildes, den sie in Barcelona aufgestöbert hatte. Albia war entzückt über den Schal und rief aus: »Ach, hat nicht Mutter auch so einen Schal gehabt? Sie liebte diesen Schal -«
Und dann verstummte sie, als hätte sie ihre Zunge verschluckt.
Nick, die sich wiederum sehr über Albias Reaktion freute, auch dass der Schal sie an Johns Mutter erinnerte, sagte: »Ach John, du hast mir noch nie von deiner Mutter erzählt«.
John warf seiner Schwester einen finsteren Blick zu. Sie schüttelte leicht, wie entschuldigend, den Kopf und senkte den Blick auf ihren Teller.
»Stimmt, John«, sagte Elliott, »ich habe deine Mutter nie kennen gelernt. Ist sie nicht schon lange tot?«
»Ja, ist sie«, erwiderte John knapp. »Das wusstest du doch, Nicola, oder? Sie starb bei einem Autounfall. Es ist schon viele, viele Jahre her. Wir sprechen nicht mehr oft über
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