Deniz, die Lokomotive
Nimmst du mich auf den Arm?“
„Aber nein. Bestimmt nicht!“, schüttelte ich meinen Kopf.
„Bist du da sicher?“, hakte sie nach.
„Tausendprozentig, Frau Hexerich. Ich geb ihnen mein Abrakadabra-Ehrenwort.“
„Mhm!“, brummte sie. „Ich weiß nicht so recht.“
„Aber ich weiß ganz genau, was ich tu. Glauben Sie mir. Ich muss nur vorher mal pinkeln.“
„Deniz!“, schreckte sie auf.
„Tschuldigung. Ich meine, ich muss mal wohin. Darf ich das nicht?“
Frau Hexerich schnaufte. Sie musterte mich, und für einen Moment dachte ich, jetzt hat sie mich doch noch durchschaut. Doch das war ein Lehrertrick. Mit dem konnte sie Erstklässler einschüchtern, aber nicht mich. In Wirklichkeit hatte sie keine Ahnung davon, was ich vorhatte. Ja, und deshalb setzte sie sich auch wieder hin, nahm ihre Lektüre, und während sie las, gab sie mir mit der linken Hand die Erlaubnis zu gehen.
Den Rest kennt ihr schon. Ich kletterte aus dem Klofenster, robbte über den Rasen, schlüpfte unter dem Zaun hindurch auf die Straße und fuhr mit der U6 zum Sendlinger Tor. Dort verließ ich den Zug, und dort wurde es mir zum ersten Mal mulmig. So viele Menschen drängten sich um mich herum, und sie waren alle erwachsen. Das heißt, sie waren größer als ich. Ihre Köpfe verdeckten die Schilder, und wenn ich einmal nahe genug unter einem Schild stand, um es lesen zu können, schubsten sie mich sofort wieder weg. Die Leute schubsten mich mindestens eine Viertelstunde herum, und als ich endlich den Bahnsteig der U1 erreichte, passte ich nicht genau auf, so erleichtert war ich. Die Anzeige „Rotkreuzplatz“ verschwamm in dem Nebel, der mich wie immer umgab, und wurde zu „Mangfallplatz“. Deshalb stieg ich in die falsche Fahrtrichtung ein, fuhr zwei Stationen weiter, so wie es mir Frau Hexerich, eingebläut hatte, kam über eine irrwitzig lange Rolltreppe an die Oberfläche zurück und befand mich auf einem riesigen Platz.
Das musste der Wettersteinplatz sein. Davon war ich überzeugt, und deshalb schenkte ich weder dem Schriftzug über dem U-Bahn-Ausgang, noch den Straßenschildern Beachtung. Die riefen mir zu: „Deniz. Du bist am Königsplatz!“
Doch ich hörte sie nicht.
Ich suchte nach einer Straßenbahnhaltestelle, lief von einer Seitenstraße in die nächste und wusste am Ende gar nicht mehr, wo ich war.
Ich hatte mich komplett verirrt. Und der Nebel, der mich immer umgab, verschluckte alles, was ein paar Meter von mir entfernt war.
Ein heißkaltes Kribbeln lief mir den Rücken hinunter, und ich bekam Angst. Warum war ich nicht zu Hause geblieben? Der Hort würde gleich schließen, und dann würde das Training beginnen. Ich würde mit Böckmann reden, dem Lavaglatzkopf, und vielleicht würde er mir ja verzeihen.
Böckmann liebte es, wenn man sich erniedrigen ließ. Bei jedem Training musste mindesten einer vor ihm im Dreck kriechen, und meistens erwischte es mich. Deniz, den Türkendickschädel!
Und genau das wollte ich nicht. Dafür war ich zu stolz. Ich war ein Sieger. Die Nummer 9. Deshalb vergaß ich das heißkalte Kribbeln, biss die Zähne zusammen und marschierte weiter, bis ich einen Taxistand fand.
Wenn man nicht weiterweiß, muss man halt fragen. Das hatte uns unsere Lehrerin schon in der ersten Klasse erzählt, und deshalb ging ich zum Taxifahrer, der in seinem Wagen hockte und Zeitung las.
„Entschuldigen Sie! Wie komm ich zum Wettersteinplatz?“, fragte ich und zeigte mein freundlichstes Lächeln.
Der Taxifahrer hob langsam den Kopf. Er musterte mich und erkannte natürlich sofort, dass ich auf keinen Fall ein Fahrgast war. Also drückte der Mistkerl auf einen Knopf neben sich, und ohne ein Wort surrte die Fensterscheibe nach oben.
Nun, dafür eilte der Tabakhändler, dessen Laden ich danach betrat, sofort auf mich zu.
„Nein. Nichts da. Das kannst du vergessen!“ Er packte mich und zerrte mich an meinem linken Ohr auf die Straße zurück. „Hier wird nichts geklaut!“
„Aber ich rauche doch gar nicht!“, schimpfte ich wütend. „Ich will nur zum Wettersteinplatz!“
„Das sagen sie alle!“, lachte der Tabakhändler, zog an meinem Ohr, bis es so lang war wie der Hals einer Giraffe, und gab mir einen Tritt in den Po.
„Zisch ab! Zieh Leine! Und lass dich hier nie wieder sehen!“, drohte er mir und trat zum zweiten Mal zu.
Ich fiel der Länge nach auf den Bürgersteig, krabbelte auf allen Vieren zwischen den Passanten hindurch, sprang auf und rannte davon. Ich verfluchte die
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