Denk an unsere Liebe
den Pastor, den Kurator oder die Besucher. Das war ihre Auffassung, aber ausnahmsweise mußte sie dieses Prinzip durchbrechen. Alles sah ganz normal aus, alles deutete darauf hin, daß es sich um einen ganz gewöhnlichen, uninteressanten Blinddarm handelte.
„Vielleicht haben Sie heute nacht schlecht geschlafen?“ sagte Toni. „Wenn man übermüdet ist, wird man so leicht nervös. Es ist kein Grund vorhanden, warum diese winzige Operation nicht gut verlaufen sollte. Morgen um diese Zeit komme ich Sie besuchen, da liegen Sie sicher lächelnd da und plaudern mit mir. Und ich denke, in einer Woche sind Sie schon wieder daheim.“
„Glauben Sie nicht, daß ich weiß, was alles passieren kann? Ich kannte eine Dame, die an einem Blutpfropfen gestorben ist, gleich nach einer ganz kleinen Operation. - Und ein Vetter von Frau Grönberg“, hier folgte ein Kopfnicken in Richtung auf das andere Bett, „mußte mit einer Sonde vierzehn Tage lang liegen – und eine Freundin von Frau Grönberg bekam Fieber, gleich nach der Operation, und da war es in das Bauchfell gegangen, und der Doktor mußte die Wunde wieder aufschneiden. – Und eine Dame, von der Frau Grönberg gehört hat, hatte eine Vergiftung bei der Betäubung, nein, sie wurde gelähmt – also kommen Sie mir nur ja nicht mit dem Märchen, eine Operation wäre ungefährlich…“
Jetzt war Toni im Bilde. Diese törichte Mitpatientin hatte also Schuld an allem. Sie kannte diesen Typ – es waren jene, die mit Vorliebe schwangere Frauen von Steißgeburten und Kindbettfieber unterhielten und tagelang Wehen mit allen Einzelheiten ausmalten und Operationspatienten haarsträubende Geschichten von grauenerregenden Operationen erzählten, natürlich mehr oder minder entstellt. Sie haßte diesen Typ aus einem guten, aufrechten Herzen, und nun, da sie eine Repräsentantin dieses Typs in Reichweite hatte, war sie so wütend, daß sie eines Kurators erste und wichtigste Pflicht vergaß: Ruhe, Freundlichkeit und Diskretion.
Sie wandte sich gegen Frau Grönbergs Bett, und das Temperament der Rothaarigen ging vollständig mit ihr durch.
„Ach so, Sie sind das also, die solche blödsinnigen Räubergeschichten erzählt? Sie reden von Vergiftungen! Aber Sie – Sie sind es, die die arme Patientin vergiftet mit all dem bösartigen Gerede. Hier versuchen wir, die Patienten nett zu behandeln und ihnen die Ruhe zu geben, die sie brauchen, und dann kommen Sie daher und verderben uns alles mit Ihrem Weibertratsch und Quatsch. Sie wissen ganz gut, daß eine Blinddarmoperation eine Bagatelle ist, aber Sie langweilen sich natürlich und sind nicht imstande, sich die Zeit anders zu vertreiben als damit, andere Menschen zu Tode zu erschrecken. Man sollte Ihnen einen Maulkorb umbinden, das ist genau das, was Sie brauchen.“
Toni holte Luft. Es war eine herrliche Erleichterung, so vom Leder zu ziehen. Dann wandte sie sich wieder an Frau Rolfsen.
„Hören Sie zu, Frau Rolfsen. Eine Blinddarmoperation ist die harmloseste und leichteste Operation, die man sich denken kann. Was Frau Grönberg erzählt hat, waren entstellte Geschichten, die einmal unter tausend vorkommen. Wenn Frau Grönberg fortfährt, Ihnen solchen Quatsch zu erzählen, dann stecken Sie die Finger in die Ohren, und hören Sie nicht zu. – Wollen Sie inzwischen etwas zu lesen haben? Ich werde ein unterhaltendes und leicht zu lesendes Buch aus der Bibliothek für Sie aussuchen. Und wenn Sie irgend etwas anderes wollen, so sagen Sie mir Bescheid. Sagen Sie einfach der Schwester, Sie möchten Frau Löngard sprechen, dann komme ich sofort. Also, viel Glück, Frau Rolfsen! Ich gucke morgen herein, dann werden wir herzlich darüber lachen, daß Sie heute solche Angst hatten!“
Als Toni aus dem Krankenzimmer herauskam, begann sie nachzudenken. Sie blieb mit gerunzelten Brauen, die Hände in den Taschen vergraben, stehen. Himmel, was hatte sie bloß zu dem Frauenzimmer da drin gesagt? Es war sicher, milde ausgedrückt, undiszipliniert gewesen. Und wenn dieser Abschaum sich nun bei der Oberschwester und dem Chefarzt über sie beklagte? – Toni wußte sehr gut, wie schwierig ihre Stellung war. Sie sollte immer freundlich sein, immer aufmerksam zuhören, sie sollte guten Rat und tröstliche Worte geben, aber gleichzeitig mußte sie um jeden Preis vermeiden, in die Domäne von Ärzten, Schwestern oder des Krankenhauspfarrers einzudringen. Bisher hatte sie glücklich alle Klippen umschifft, aber wenn Frau Grönberg nun
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