Denkanstöße 2013
kein Zeichen von Egozentrik, sondern im Wortsinne menschlich. Zum einen, weil von allen Spezies nur Homo sapiens in der Lage ist, sein Ich auf eine tiefgründige Weise zu reflektieren. Zum anderen, weil ein stabiles Ich nie wichtiger war als heute â in Zeiten, in denen das AuÃen so ungewiss erscheint. Wenn sich langjährige und scheinbar stabile Arbeitsverhältnisse unter der Wucht der Globalisierung in kürzester Zeit auflösen. Wenn sich Beziehungen zwischen Menschen mehr und mehr in unübersichtliche soziale Netzwerke verlagern. Wenn mehr als jede dritte Ehe geschieden wird, ganze Familien zerbrechen.
Der groÃe Soziologe Max Weber beschrieb die Persönlichkeitsstruktur des Bürgers noch als »stahlhartes Gehäuse«. Doch die Zeiten sind vorbei, in denen eine als geglückt angesehene Biografie vor allem stetig und stabil verlief.
Auf den postmodernen Menschen stürmt eine wachsende Vielfalt von Wünschen, Optionen, Gelegenheiten, Verpflichtungen und Werten ein, wie der US-Sozialpsychologe Kenneth Gergen feststellt. Diese Unberechenbarkeit führe zur Wahrnehmung von »Chaos und dem beziehungslosen Nebeneinander von verschiedenen Teil-Identitäten in einer Person«. Eine Grunderfahrung für viele Menschen in westlichen Gesellschaften.
Wer aber halbwegs sicher durch sein Leben navigieren will, braucht das Gefühl, für seine Handlungen selbst verantwortlich zu sein, sich selbst steuern zu können. Entscheidend dafür ist die »Selbstwirksamkeit«. So nennen Psychologen die Fähigkeit, an sich und seine Kompetenzen zu glauben, Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Lebens, zurechtzukommen auch mit unvorhergesehenen Situationen.
Nur auf diese Weise entsteht so etwas wie seelische Stabilität, ein eigens geschriebener Entwicklungsroman, der eine Verbindungs-, ja Lebenslinie zieht zwischen dem Kleinkind, das man einst war, und dem Erwachsenen, der man geworden ist. Der instabilen äuÃeren Welt kann der Mensch nur durch eine Stabilität in seinem Inneren begegnen. Wer hingegen der Ãberzeugung ist, er sei ein Spielball der gesellschaftlichen Umstände und eines übermächtigen Schicksals, wird oft zu eben diesem.
Für den Psychoanalytiker und Vertreter der amerikanischen Ich-Psychologie Erik Erikson besteht »das Kernproblem der Identität« daher »in der Fähigkeit des Ich, angesichts des wechselnden Schicksals« dennoch so etwas wie Kontinuität aufrechtzuerhalten. Jeder Mensch müsse daher eine Antwort auf die Frage finden: »Wer bin ich?« Dazu sei es unerlässlich, sich selbst möglichst gut zu verstehen.
Wie gut kennen wir unser Ich?
Natürlich, nichts ist uns näher als das Ich. Schauen wir in den Spiegel oder auf ein Kinderbild von uns, so ist uns klar: Das bin ich! Erinnern wir uns an etwas, so sind es zweifellos unsere eigenen Erinnerungen. Wachen wir morgens auf, so wissen wir sofort, dass wir es sind, der sich noch verschlafen die Augen reibt. Wir gehen davon aus â die meisten von uns jedenfalls â, dass wir einen freien Willen haben und bestimmte Vorstellungen, etwa über Moral.
Das Ich ist einfach immer da. Wir müssten es eigentlich sehr gut kennen. Und damit den Kern unserer Persönlichkeit. Doch wie zutreffend, wie realistisch ist der Blick auf unser Selbst? Ist unsere Wahrnehmung von uns identisch mit dem tatsächlichen Ich? Sind wir nicht oft blind für unsere Schwächen, mitunter sogar für unsere Stärken?
Wissenschaftler können heute viele gute Gründe dafür nennen, dass der Blick auf das eigene Ich kein sehr scharfer ist und die Introspektion allein, also der Blick nach innen, ungeeignet ist, dem Ich auf die Spur zu kommen. Oft schönen wir das Bild von uns selbst â und unterliegen Denkfehlern: vor allem einem überzogenen Optimismus und der Illusion der Ãberdurchschnittlichkeit.
Dafür gibt es zahlreiche Beispiele: So glauben 80 Prozent der Autofahrer, zu den besten fünf Prozent aller Autofahrer zu gehören. Und bei Umfragen geht die groÃe Mehrheit der Frauen und Männer davon aus, dass sie überdurchschnittlich sensibel, nachdenklich und gefühlvoll sind â was ebenfalls rein logisch nicht möglich ist. Ãhnlich das Ergebnis einer US-Studie, wonach 94 Prozent aller Professoren davon überzeugt sind, »weit Ãberdurchschnittliches« zu leisten.
Vor diesem Hintergrund verwundert
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