Denkanstöße 2013
weggewischt. Dann sollte der Mann einen Fragebogen mit 60 Persönlichkeitsmerkmalen ausfüllen â ob er meine, dass diese Eigenschaften gar nicht, ein wenig, halb-halb oder ganz besonders auf ihn zutreffen. Seine Tochter beantwortete dieselben Fragen zu seiner Person. Die Antworten ähnelten sich frappierend. Der Mann hatte offenbar ein Bewusstsein von sich behalten, obwohl er sich an nichts, was er jemals getan hatte, erinnern konnte.
âDer Hirnforscher Vilayanur S. Ramachandran beschrieb eine normal intelligente Patientin, die aufgrund eines Hirnschlags einen steifen linken Arm hatte. Sie bestritt aber, dass dem so sei, und behauptete, der Arm gehöre ihrem Vater, der sich unter dem Tisch verberge. Als der Forscher sie bat, mit der linken Hand ihre Nase zu berühren, nahm die Frau mit der rechten Hand den gelähmten linken Arm und stupste auf diese Weise mit der linken Hand gegen ihre Nase. Es gab also etwas in ihr, das wusste, dass der linke Arm zu ihr gehörte, aber ihr Ich verneinte das. Selbst als der Forscher ihren Arm nahm und ihr zeigte, dass der an ihrer Schulter ansetzte, stimmte sie zwar zu, bestand aber weiter darauf, dass der Arm ihrem Vater gehöre. Der Widerspruch störte sie nicht.
âNoch seltsamer ist ein Ich, das sich selbst verleugnet, was eigentlich ein Widerspruch in sich selbst ist. Menschen mit dem Cotard-Syndrom gelingt diese Paradoxie spielend. Sie »wissen« von sich, sagen sie, dass sie tot sind. Sie formulieren Sätze wie »Ich bin tot« oder »Ich kann riechen, wie mein Körper verwest«. Und sie sind absolut nicht davon zu überzeugen, dass dem nicht so ist. Jegliche Sinnesempfindung ist offenbar von den Emotionen abgekoppelt, die ganze Welt wird irreal. Keine emotionale Wahrnehmung der Welt und keine der Person â was könnte dem Gefühl des Todes stärker ähneln?
Selbst manche Persönlichkeitsmerkmale, von denen wir denken, dass sie aufs Engste mit dem Kern unseres Ich verknüpft sind, sind für Veränderungen anfällig. So zum Beispiel das moralische Urteilsvermögen. Erzeugt man über dem rechten Ohr ein starkes Magnetfeld, das die Nervenströme in der darunterliegenden Hirnregion durcheinanderbringt, verkümmert das moralische Empfinden dieses Menschen.
Für eine entsprechende Studie mussten Testpersonen mehrere Kurzgeschichten lesen und beurteilen, ob sich der jeweilige Protagonist moralisch einwandfrei verhält. In einer Geschichte war beschrieben, wie eine Ehefrau plant, ihren Mann zu vergiften. Normalerweise würden die meisten schon eine solche Absicht als verwerflich bezeichnen. Nicht so unter dem Einfluss des Magnetfelds: Die Probanden empfanden Handlungen, die letztlich keinen Schaden verursachten, als halbwegs akzeptabel, selbst wenn dahinter ein niederträchtiger Plan steckte. Gleichzeitig beurteilten sie Menschen strenger, die einem anderen nur aus Versehen Leid zufügten. Ihr moralisches Urteilsvermögen entsprach unter der Einwirkung des Magnetfelds dem von Kindern im Alter von unter sechs Jahren.
Die Moral eines Menschen â abhängig von einem physikalischen Phänomen?
Viele Wege führen zum Ich
»Erkenne Dich selbst!« â Diese Aufforderung, eingraviert an einer Säule des Apollontempels in Delphi, sollte den Menschen ursprünglich an seine Sterblichkeit erinnern, im Gegensatz zu den Göttern. Der Philosoph Platon war es dann, der die Ermunterung zur Demut umdeutete. Der Mensch solle das »Erkenne Dich selbst!« vielmehr als Ansporn betrachten. Als Ansporn, den Vorhang des Nichtwissens um sich und seine Existenz zu lüften. Heute sind wir dem Wissen über unser Ich mithilfe der Psychologie und modernen Naturwissenschaften ein gutes Stück näher gekommen als die alten Griechen.
Inzwischen kennen wir verblüffende Details über die Beschaffenheit des Ich und die Persönlichkeit des Einzelnen. Unterschiedlichste Disziplinen umkreisen heute die Frage: Wer bin ich? Therapeuten und Genforscher, Psychologen und Informatiker, Mediziner und Lebensverlaufsforscher liefern wichtige Bausteine zu einem besseren Verständnis unseres Selbst. Sie wollen etwas herausfinden über den Sitz des Ich im Hirn, über die familiären Bindungen und freundschaftlichen Bande, die jeden Einzelnen geprägt haben, über körperliche Merkmale, die etwas über die Persönlichkeit verraten.
âBeispiel Familie: Vieles von dem,
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