Denkanstöße 2013
wir hier nicht das Verhalten anderer Menschen verstehen wollen; es ist das »Verhalten« Gottes oder ansonsten des Universums, das handelt, als wäre es irgendeine vage, absichtsvoll agierende Wesenheit.
In seinem Buch Acts of Meaning (1992) bringt der Psychologe Jerome Bruner von der Harvard University vor, wir würden tendenziell nach einer Bedeutung suchen, wann immer das Verhalten anderer gegen unsere Erwartungen verstöÃt oder sich nicht nach grundlegenden sozialen Normen richtet. Beispielsweise löst der Bruch sprachlicher Regeln â Linguisten nennen das »konversationelle Implikaturen« â häufig eine hektische Suche nach den Absichten des Sprechers aus. Antwortet jemand auf die Frage, was der Wetterbericht für den nächsten Tag sagt, mit »einen Whiskey Sour, bitte«, dürften die meisten Zuhörer automatisch über die Gründe dieser unpassenden â oder zumindest unerwarteten â Reaktion nachdenken. Vielleicht spricht der Betreffende kein Deutsch und hat die Frage nicht verstanden, vielleicht ist er geistig erkrankt oder möglicherweise verärgert und versucht, den Zuhörer zu frustrieren, vielleicht ist er aber auch sarkastisch, zu einem SpäÃchen aufgelegt oder schwerhörig und so weiter. Obwohl jede dieser Erklärungen eine andere Theorie für die Ursache der merkwürdigen Reaktion heranzieht, beziehen sich alle auf seinen mentalen Zustand. Dagegen käme es wahrscheinlich nicht zu einer solchen Suche nach der Bedeutung, wenn er angemessen reagiert und gesagt hätte: »Ich glaube, es ist mit Regen zu rechnen.« Ebenso werden erwartbare oder alltägliche Naturereignisse eher nicht als Zeichen oder Botschaften von Gott angesehen, weil sie es nicht schaffen, die Mentalisierung in Gang zu setzen. Meistens laufen die Dinge in Ãbereinstimmung mit unseren Erwartungen ab. Erst wenn sie davon abweichen, werden wir derart bereitwillige Sklaven unlogischen Denkens.
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Ohne eine generelle kognitive Neigung, in Naturereignissen verborgene Botschaften zu sehen, hätte Religion, wie wir sie kennen, sich gröÃtenteils nicht entwickeln können. Das liegt daran, dass solche Episoden oft als Bestätigung für die Existenz kommunikativer »Anderer« â Gott, Ahnen oder was auch immer â betrachtet werden, die unser persönliches Leben durch kausale Wechselwirkung mit der Welt der Natur beeinflussen können. Die wahrgenommene Rückmeldung von der anderen Seite flöÃt uns das starke Gefühl ein, dass wir (und, was vielleicht wichtiger ist, unser Verhalten) für etwas GröÃeres als das bloÃe Hier und Jetzt eine Bedeutung haben. Und ohne den Glauben, Gott sorge sich so sehr um mich als Individuum, dass er sich die Mühe macht, mir immer wieder mal eine verschleierte, personalisierte Botschaft des Typs »Ich denke gerade an dich« zu senden, gibt es wahrlich kaum einen Grund, ihm Aufmerksamkeit zu schenken.
Wenn eine voll funktionsfähige Mentalisierung erforderlich ist, damit in Naturereignissen Zeichen gesehen werden können, sollten wir erwarten, dass diese Art des Denkens bei Menschen mit einer klinischen Beeinträchtigung der Mentalisierungsfähigkeit weniger ausgeprägt ist. Bei ihnen sollte sich Religion erheblich anders manifestieren als bei anderen Menschen. Autismus ist eine solche Störung. Individuen innerhalb der Bandbreite des Autismus einschlieÃlich der ansonsten völlig alltagstauglichen Menschen mit dem Asperger-Syndrom, deren IQ ganz normal (oder sogar hoch) ist, fällt es oft sehr schwer, über die psychischen Zustände anderer Menschen nachzudenken. Das betrifft speziell die subtilen, nuancierten Aspekte im Denken anderer wie etwa Sarkasmus, Taktlosigkeit und Ironie. Der Psychologe Simon Baron-Cohen â übrigens ein Cousin des Stars von Borat (2006) und Bruno (2009) â von der Universität Cambridge hat Autisten als »mindblind« (blind für das Denken anderer) bezeichnet, obwohl diese Charakterisierung ein wenig übertrieben sein mag. Menschen mit Autismus wird man vielleicht besser mit der Vorstellung gerecht, dass sie nie eine voll entwickelte intentionale Haltung ausgebildet haben. Ihre Sensibilität gegenüber mentalen Zuständen ist wahrscheinlich eher abgeschwächt als gar nicht vorhanden.
In den letzten Jahren haben Baron-Cohen und seine Kollegen die einigermaÃen erstaunliche Hypothese
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