Denkanstöße 2013
heftigen Zorn gegen die von Drogen benebelte Stadt, den militärischen Einfall des Landes in den Irak und das »schwarze Amerika«, und alles in einem Aufwasch:
Gott ist ganz sicher wütend auf Amerika. Ganz sicher billigt er es nicht, dass wir unter einem falschen Vorwand im Irak sind. Doch ganz sicher ist er auch wütend über das schwarze Amerika. Wir passen nicht selbst auf uns auf.
Diese ÃuÃerung zog scharfe Kritik von allen Seiten auf sich und führte schlieÃlich dazu, dass Nagin eine peinliche Entschuldigung lieferte â er versprach, sich beim nächsten Mal zurückhaltender auszudrücken. Doch die von der Kanzelrhetorik des Bürgermeisters ausgelöste Aufregung beruhte nicht darauf, dass die Leute unfähig gewesen wären, den Kern von Nagins Aussage zu begreifen. Vielmehr glaubten die meisten Leute nicht, dass ihr Gott, den sie als liebenden, nicht zornentbrannten Gott sahen, uns armen Menschenwesen auf diese spezielle Weise eine Nachricht übermitteln würde. So, wie Einstein einmal gegenüber einem Freund gesagt haben soll: »Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft ist er nicht.«
Natürlich erfand Nagin bloà das gut eingefahrene Rad aus Feuer und Schwefel neu, als er andeutete, unser Gott sei ein zorniger und rachsüchtiger Gott. Gerade mal ein Jahr bevor er in dieses politische Fettnäpfchen treten sollte, bedienten sich andere nachdenkliche Menschen aus allen Ecken der Welt aus ebendiesem Vorrat an Erklärungen: Sie boten Erläuterungen für den »wahren« Grund des indonesischen Tsunami, der 2004 in Südostasien mehr als eine Viertelmillion Menschen in den Tod riss. (Was schert uns die plötzliche Verschiebung tektonischer Platten auf dem Boden des Indischen Ozeans.) Auch diese Katastrophe sahen alle als eine Art gewaltige, blinkende Leuchtschrift im Stil von Las Vegas, die uns oberflächlichen, gefallenen und so prächtig fehlerhaften Menschenwesen eine deutliche Botschaft übermitteln sollte. Hier ein paar anonyme Beispiele aus einigen Online-Diskussionsforen nur wenige Tage nach der Tsunami-Katastrophe:
So spricht der Herr, ich sende euch etwas hinab als Warnung, damit ihr nachdenken und eure Wege ändern möget.
Viele Male lässt Gott zu, dass so etwas geschieht, um die Menschen vor Gott auf die Knie zu zwingen. Etwas in dieser GröÃenordnung ist notwendig, damit sie begreifen lernen, dass es da etwas GröÃeres gibt als sie selbst, das die Welt lenkt.
Es könnte einfach Gottes Art sein, uns daran zu erinnern, dass er verantwortlich ist, dass er Gott ist und wir bereuen müssen.
Diese â für alle Betroffenen so belastende â Katastrophe war für die Menschheit insgesamt ein zutiefst moralisches Ereignis, ein von Gott zu unserem Nutzen vollbrachter Akt.
Wichtig ist der gemeinsame Nenner dieser Beispiele oder all der Fälle, in denen ein Naturereignis als Zeichen, Omen oder Symbol aufgenommen wird: die Mentalisierung. Wenn wir die Welt auf diese Weise analysieren, versuchen wir, in Gottes Kopf zu gelangen â oder in den Kopf jeder beliebigen kulturell konstruierten übernatürlichen Wesenheit, die wir im Angebot haben. Dabei sollte man jedoch in Betracht ziehen, dass ohne unsere evolutionär entstandene Fähigkeit, über unsichtbare mentale Zustände nachzudenken, Hurrikane und Tsunamis nichts weiter wären als das, was sie für jedes andere Tier auf Erden sind: wahrhaft schlimme Unwetter. Das heiÃt, Naturereignisse können ebenso wie das oberflächlich sichtbare Verhalten anderer Leute von uns Menschen nur deshalb so wahrgenommen werden, als würden sie etwas anderes bedeuten als ihre Oberflächenerscheinungen, weil unser Gehirn mit dieser spezialisierten kognitiven Software versehen ist. Die Fähigkeit zur Mentalisierung ermöglicht es uns, über darunter liegende psychische Ursachen nachzudenken.
Natürlich gibt es in der Realität wahrscheinlich keine solchen psychischen Ursachen, doch unser Gehirn ficht das nicht an. Die Mentalisierung schaltet aus dem Stand in den höchsten Gang â genau wie nach einer Provokation durch das unerwartete soziale Verhalten eines anderen Menschen. Etwa so, als wolle man seinem besten Freund die Hand schütteln, worauf er einem ins Gesicht schlägt. Es muss einen Grund dafür geben, weshalb er so gehandelt hat, auch wenn das vielleicht nicht unmittelbar ersichtlich ist. Nur dass
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