Denkanstöße 2013
ich mir wie jemand vor, der in Zeitlupe lebt. »Mich darfst du nicht fragen, ich höre nicht das, was die anderen hören.« »Du hörst nicht die Hit-Liste.« »Doch, aber zum Beispiel auch Robbie Williams. « »Ah, ich dachte, der ist ein Megastar.« » Für die Oldies.« »Verstehe ⦠und was also hört man dann so.« »Ach, Mami â¦Â«, seufzt es neben mir, und ich weiÃ, was im Kopf meiner T ochter abläuft. Bis die das kapiert hat, sind die Songs und Bands doch längst wieder out.
Hinter dem Bedürfnis nach Popmusik steckt eine gigantische Unterhaltungsindustrie, die diese Bedürfnisse bedient. Immer schneller, immer greller, immer zynischer auch. Songs und Sänger werden am ReiÃbrett entworfen und auf die Wünsche und Bedürfnisse der Zuhörer â insbesondere junger Mädchen â zugeschnitten. Zu jeder Band gehört ein ganzes Arsenal an Merchandising-Produkten, die samt der Musik direkt im Internet zu beziehen sind. Zu jeder Musikrichtung gibt es die dazugehörige Mode und Zeitschriften. Einige Dutzend Fernsehkanäle, unzählige Radiosender und vor allem das Internet sorgen für einen Unterhaltungsoverkill, in dem sich Jugendliche â siehe deine Tochter â jedoch bestens auszukennen scheinen. Man schätzt das jugendliche Konsumpotenzial in Deutschland auf etwa 15 Milliarden Euro pro Jahr (Farin 2001, Hamm 2003). Dass die Unterhaltungsindustrie ein derartiges Ausmaà annehmen kann, ist wohl am ehesten mit dem gewaltigen emotionalen Bedürfnis der Jugendlichen zu erklären.
Warum ist es für Jugendliche so wichtig, Popmusik zu hören, mit dieser Musik zu leben?
Die gröÃte Wirkung von Musik besteht darin, dass sie Gefühle und Erinnerungen hervorzurufen vermag. Sie wirkt wie ein Katalysator auf unser emotionales Innenleben. Die Popmusik bedient sich dieser Wirkung auf eine sehr massenwirksame und auf ein jugendliches Lebensgefühl zielende Weise. Mit eingehenden Melodien und immer gleichen Rhythmen löst sie ein hohes Maà an Vertrautheit aus. Romantische Liebe, die Sehnsucht nach einem Partner, Sexualität, Glück, aber auch Wut und Ãrger oder Trauer und Hoffnungslosigkeit. Die Texte sind meist zweitrangig und voller Schlüsselbegriffe oder Standardsätze, etwa: »Paradise, desire, forever together , Iâll be there for you, joy and pain, sunshine and rain etc.« (Hauck 1999) Die Eltern können diesen Gefühlsüberschwang und seine Einseitigkeit nicht mehr nachvollziehen, sie sollten aber deshalb diese Musik nicht lächerlich machen. Die Musik spiegelt die emotionalen Umwälzungen der Pubertät; Jugendliche müssen sich vom Kindsein verabschieden und zum Erwachsensein entwickeln, sich von den Eltern lösen und bei den Gleichaltrigen ankommen. Dabei entstehen zahllose Träume und Sehnsüchte und perfekt ausgemalte Vorstellungen von einer Welt, in der sie leben möchten. All dem gibt die Popmusik eine Stimme.
Wäre das Verhalten der Jugendlichen anders, wenn es diesen enormen Konsumdruck der Unterhaltungsindustrie nicht gäbe?
Die Unterhaltungsindustrie kann diese Gefühle nur ausnutzen, weil sie so stark sind. Ich glaube auch nicht, dass die Unterhaltungsindustrie andere Interessen verdrängt. Es gibt Jugendliche, die sich für eine gewisse Zeit nur noch für Popmusik und Facebook interessieren, während andere nach wie vor eigenen Aktivitäten nachgehen.
Eine Freundin von mir hatte eine ganz einfache Regel: Fernsehen schauen durften die Jugendlichen nur am W ochenende, dann dafür ausgiebig. Ich habe diese Regel für meine T ochter übernommen. Das Erstaunliche daran war, dass es nicht nur funktionierte, sondern durch den wegfallenden Konsumzwang auch Platz für andere Aktivitäten frei wurde. Hätte ich die Regel nicht aufgestellt, wären viele andere Beschäftigungen wohl verkümmert. Das Gleiche müsste eigentlich auch in allen anderen Bereichen der Unterhaltungsindustrie funktionieren.
Die Lösung besteht, denke ich, weniger darin, etwas zu verbieten, als vielmehr darin, Alternativen anzubieten. Bei dir hat das funktioniert, weil deine Tochter attraktive Alternativen zum Fernsehkonsum hat. Viele Eltern sind aber selbst Opfer ihres Konsumverhaltens und sitzen beispielsweise mehrere Stunden täglich vor dem Fernsehgerät. Warum sollen sich da die Jugendlichen bezüglich Fernsehen,
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